Grusswort an die Freunde der „Unità dei Cristiani“
(Rom, Ende November 2023)
Liebe Freunde der Unità dei Cristiani!
„Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist“ (Phil 3, 13-14). Mit diesem Bekenntnis bringt der Apostel Paulus seine tiefe Sehnsucht nach voller Gemeinschaft mit Jesus Christus zum Ausdruck. In einem übertragenen Sinn kann dieses Bekenntnis auch als Leitstern auf dem ökumenischen Weg der Versöhnung zwischen den Christen gelten. Auch auf diesem Weg geht es zuerst um ein Vergessen dessen, was in der Geschichte hinter uns liegt, nämlich Missverständnisse und Polemiken, Verurteilungen und Spaltungen. Solches Vergessen, dessen tiefster Gehalt freilich das Verzeihen ist, ist die unabdingbare Voraussetzung für das Sich-Ausstrecken nach dem, was vor uns liegt, dass wir nämlich die Einheit unter uns Christen wiederfinden.
Was es in der Beziehung zwischen der Katholischen Kirche und dem Luthertum zunächst zu vergessen gilt, dies haben die Generalsekretärin des Lutherischen Weltbundes, Frau Pfarrerin Anne Burghardt, und ich an der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Krakau im vergangenen September in einem „Gemeinsamen Wort“ an zwei schmerzlichen Fakten in der Geschichte festgemacht:
Auf der einen Seite stellt die Tatsache, dass die Katholische Kirche den Reformator Martin Luther exkommuniziert hat, für viele Lutheraner einen wichtigen Stein des Anstosses dar. Auch wenn mit den Tod des Reformators seine Exkommunikation schon längst ihre unmittelbare Wirkung verloren hat und die Lutheraner für uns Katholiken Schwestern und Brüder sind, mit denen wir durch die eine Taufe verbunden sind, wirkt die Exkommunikation im konfessionellen Gedächtnis weiter. Auf der anderen Seite bildet die der Exkommunikation vorausgegangene Tatsache, dass Martin Luther selbst und dann die lutherischen Bekenntnisschriften das Papsttum als „Antichristen“ verurteilt haben, für Katholiken ein schwerer Stein des Anstosses. Auch wenn die meisten Lutheraner diese Ansicht heute nicht mehr unterstützen, wirkt diese geschichtliche Wunde bis heute nach.
Die beiden Beispiele belegen, dass unterschiedliche Theologien in der Geschichte zu Missverständnissen, Konflikten und schliesslich zu Spaltungen geführt haben. Wir können diese Trennungsgeschichte gewiss nicht ungeschehen machen; doch wir können sie historisch vergessen, so dass sie Teil unserer Versöhnungsgeschichte werden kann. Daraus folgt die zweite Bewegung des Sich-Ausstreckens nach dem, was vor uns liegt. Dazu gehört auch ein gemeinsames Bedenken der Fragen, die hinter den genannten geschichtlichen Fakten liegen, nämlich der Fragen nach dem Wesen der Kirche und ihrer Einheit und der Bedeutung des Petrusdienstes für eine gemeinsame Zukunft.
Diesen Fragen muss der katholisch-lutherische Dialog weiterhin eine besondere Aufmerksamkeit schenken. In Krakau haben wir uns deshalb auch gemeinsam auf das Jahr 2030 ausgestreckt, in dem wir den 500. Jahrestag des Augsburger Reichstages und der Verkündigung des Augsburgischen Bekenntnisses begehen werden. Dieses Bekenntnis ist in jenem Zeitpunkt verfasst worden, als die kirchliche Einheit stark gefährdet gewesen, aber die Trennung noch nicht vollzogen worden ist. Es hat deshalb sein Ziel darin gesehen, die arg gefährdete Einheit zu wahren. Wenn wir dieses Bekenntnis nach fünfhundert Jahren in seiner ursprünglichen vorkonfessionell-ökumenischen Sinnrichtung gemeinsam wieder bedenken, kann es eine grosse Hilfe auf dem wichtigen Weg der Versöhnung sein.
Mit diesem Ausblick grüsse ich Sie, liebe Freunde der Unità dei Cristiani, aus Rom und nehme gerne die Gelegenheit wahr, Ihnen erneut für Ihr unermüdliches ökumenisches Engagement herzlich zu danken. Einen speziellen Dank darf ich gewiss auch in Ihrem Namen dem Präsidenten, Herrn Max Semler, und seiner geschätzten Gattin für die gediegene Leitung der Unità dei Cristiani sagen. Ich wünsche Ihnen einen besinnlichen Advent und eine gesegnete Weihnacht, bei der wahr werden möge, was die Engel damals gesungen haben: „Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade“ (Lk 2, 14). Diese zweifache Verheissung hat unsere Welt, die von so viel Terror und Krieg stigmatisiert ist, dringend nötig. In der Verbundenheit des Gebetes grüsse ich Sie herzlich