Ehrfurcht vor Gott und christliche Furchtlosigkeit
Homilie in der Eucharistiefeier in der Kirche der Katholischen Universität Lublin „Johannes Paul II.“ am 16. Oktober 2020
Kurt Cardinal Koch
„Fürchtet euch nicht!“
In dieser Zumutung Jesu kulminiert das heutige Evangelium. Diese Zusage dürfte bei uns gewiss zunächst auf offene Ohren und geöffnete Herzen stossen. Denn wir leben in einer Welt, in der wir Grund genug haben, uns zu fürchten. Wir fürchten uns, der Sinn unseres Lebens könnte auf einmal in Frage gestellt werden. Wir fürchten uns, dass eine Freundschaft misslingen oder die Ehe scheitern könnte. Wir fürchten uns um unsere Gesundheit, die vom Coronavirus angegriffen werden könnte, oder dass wir aufgrund der wirtschaftlichen Konsequenzen der Pandemie unsere Arbeit verlieren. Und wenn wir in die grosse Welt hinein blicken, müssen wir Entwicklungen feststellen, die uns fürchten lassen. Denken wir nur an die Globalisierung der Wirtschaft, die weit vorangeschrittene Zerstörung der Ozonschicht und das Flüchtlingsproblem, das dramatische Ausmasse angenommen hat. Diese Entwicklungen lösen in uns Ängste aus. Es kann kein Zweifel bestehen, dass auch die gegenwärtige Lebenssituation von uns Menschen von einer Grundstimmung der Angst geprägt ist.
In dieser Situation hören wir das Wort Jesu: „Fürchtet euch nicht!“ Wenn wir diese Zumutung Jesu in Beziehung mit der Realität unseres Lebens und unserer Welt bringen, stellt sich uns die Frage, mit welcher Vollmacht Jesus denn eine solche Zumutung aussprechen kann. Vielleicht hört sie sich für viele an wie die Zusicherung von Politikern, wenn sie den Bürgern ihre Ängste auszureden oder gar zu verbieten pflegen. Den angesichts von verhängnisvollen Entwicklungen in der heutigen Welt sich ängstigenden Menschen halten sie entgegen, Angst sei in der Politik ein schlechter Ratgeber. Doch lässt sich die Angst der Menschen einfach in Abrede stellen oder gar verbieten, zumal dort, wo Angst wirklich angebracht ist? Hat nicht der heilige Thomas von Aquin nur zu sehr recht, wenn er in seiner Tapferkeitslehre betont, dass derjenige, der dort keine Angst empfindet, wo Angst angebracht und dringend geboten ist, kein tapferer, sondern ein empfindungsloser Mensch ist? Und gehört die Angst nicht so sehr zum Menschsein von uns Menschen, dass man gleichsam den Menschen abschaffen müsste, wenn man vorgibt, die Angst abschaffen zu können. Denn es gibt für uns Menschen prinzipiell kein angstfreies Leben.
„Mehr wert als viele Spatzen“
Angesichts dieser Feststellungen erhebt sich nochmals die Frage, ob man die Ängste von uns Menschen einfach verbieten kann, wie es Jesus mit seiner Zumutung „Fürchtet euch nicht!“ zu tun scheint. Wir sind deshalb gut beraten, genauer hinzuhören, was Jesus uns wirklich sagen will. Denn Jesus ruft uns nicht nur zu, dass wir uns nicht zu fürchten brauchen; er nennt vielmehr auch einen spezifischen Grund für seine Zumutung: „Ihr seid mehr wert als viele Spatzen.“ Uns nicht fürchten zu müssen, dies ist nicht einfach wegen der gegenwärtigen Situation unseres Lebens und des Zustandes unserer Welt möglich, sondern allein deshalb, weil Gott unbeirrbar treu zu uns Menschen steht und wir bei ihm geborgen sein dürfen, wie Jesus mit einem Bild uns nahelegt, das wir uns realistischerweise nicht einmal vorstellen können, das uns aber gerade deshalb ungemein berührt: „Verkauft man nicht fünf Spatzen für ein paar Pfennig? Und doch vergisst Gott nicht einen von ihnen. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf gezählt.“
Mit dieser Verheissung unterscheidet sich Jesus um eine ganze Welt von heutigen Politikern, die den Bürgern ihre Ängste ausreden wollen. Denn das heutige Evangelium zeigt, dass Jesus die Ängste der Menschen ernst nimmt, ja so ernst nimmt, dass er uns auch sagt, vor wem wir uns zu fürchten haben und in der Tat fürchten sollen: „Ich will euch zeigen, wen ihr fürchten sollt: Fürchtet euch vor dem, der nicht nur töten kann, sondern die Macht hat, euch auch noch in die Hölle zu werfen. Ja, das sage ich euch: Ihn sollt ihr fürchten.“ Wenn wir zu dieser Furcht stehen, brauchen wir uns vor nichts mehr zu fürchten. Da gilt vielmehr die Zumutung Jesu: „Fürchtet euch nicht!“ Und Jesus gibt vor allem den einzig tragfähigen Grund an, weshalb wir uns nicht zu fürchten brauchen: „Ihr seid mehr wert als viele Spatzen.“
Dieser Grund, den Jesus im heutigen Evangelium in einem einzigen Satz verdichtet, wird in der Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Epheser breit entfaltet und mit verschiedenen Begriffen beschrieben, die eng aufeinander bezogen sind. Es ist die Rede von einem Erbe, das allen gehören wird; es wird von Rettung gesprochen, die uns im Wort der Wahrheit geschenkt ist; und es wird uns Erlösung verheissen, „durch die wir Gottes Eigentum werden“, weil wir von Gott unendlich geliebt sind. Im Geliebtsein liegt der wahre Grund, weshalb wir uns nicht zu fürchten brauchen. Dieser Grund ist nicht unsere eigene Leistung, sondern die Liebe des Dreieinen Gottes, die uns von Ewigkeit ausgesucht und erwählt hat, wie Papst Benedikt XVI. mit den tiefen Worten ausgedeutet hat: „In Gottes Gedanken sind wir ewig schon da, weil wir ja zu seinem Sohn gehören. So haben wir an seiner Ewigkeit, an seiner Vorgängigkeit zu allen Dingen dieser Welt teil. In ihm gibt es uns gleichsam immer schon. Gott sieht uns in ihm an, mit seinen Augen.“[1]
Wer darum wissen darf, dass er von den Augen Gottes stets angeschaut wird, dem ist im Leben ein Sinn geschenkt, der grösser und stärker ist als jede Furcht. Denn er erkennt, dass es nur eine Furcht geben kann, die dem Christen gemäss ist, nämlich die Ehr-Furcht Gott gegenüber. Wer Gott fürchtet, der braucht sich vor nichts mehr zu fürchten. Die Gottesfurcht wird deshalb in der Heiligen Schrift als „Anfang der wahren Weisheit“ gerühmt, weil sie mit der Achtung der Herrlichkeit Gottes identisch ist. Von daher beginnen wir zu verstehen, weshalb die Lesung aus dem Epheserbrief in das Wort mündet, dass wir zum Lob von Gottes Herrlichkeit bestimmt sind. Damit ist der Ernstfall unseres Glaubens angesprochen: Wo Gott nicht mehr gelobt wird, beginnen die Ängste in uns zu wuchern. Wenn wir aber unser Gesicht auf Den hin wenden, der uns mit seinen Augen anschaut, dann brauchen wir uns nicht mehr zu fürchten.
Furchtloser Zeuge des Glaubens
Wer Gott fürchtet, und zwar im Sinne der Ehrfurcht und des dankbaren Lobpreises, der braucht sich vor nichts mehr zu fürchten. Besser als mit vielen Worten wird diese Glaubenswahrheit uns von einem Menschen vor Augen geführt, nämlich vom heiligen Papst Johannes Paul II., der genau heute vor zweiundvierzig Jahren zum Bischof von Rom und Papst der universalen Kirche gewählt worden ist. Er bleibt in unserer dankbaren Erinnerung als ein unerschrockener und furchtloser Zeuge des Glaubens:
Überzeugt vom zutiefst menschenfeindlichen Grundzug des Kommunismus hat er wesentlich zum Zusammenbruch der kommunistischen Regimes und zur Wende in Europa beigetragen, wie kein geringerer als Michail Gorbatschow bekannt hat: „Was in Europa in den letzten Jahren geschehen ist, wäre nicht möglich gewesen ohne diesen Papst, ohne Johannes Paul II., ohne die grosse Rolle, die er im Weltgeschehen gespielt hat.“ Was Papst Johannes Paul II. weltgeschichtlich bewegt und gewirkt hat, dies hat er auch entschieden vertreten, vor allem in seinen bedeutenden Sozialenzykliken, in denen er immer wieder den Vorrang des Menschen vor den Produktionsmitteln, den Vorrang der Arbeit vor dem Kapital und den Vorrang der Ethik vor Technik und Politik betont hat. Eng mit dieser sozialen Botschaft zusammen hängt der leidenschaftliche Einsatz von Papst Johannes Paul II. für das menschliche Leben von seinem Beginn bis zu seinem natürlichen Sterben, für einen umfassenden Lebensschutz und für eine „Kultur des Lebens“ angesichts der heutigen „Zivilisation des Todes“.
Mit derselben Kraft und Überzeugung ist Papst Johannes Paul II. auch für den katholischen Glauben eingestanden. Angesichts des schwierigen Erbes der nachkonziliaren Kirche hat er sie im Spannungsfeld von Tradition und Erneuerung und von Glaubenstreue und Zeitgenossenschaft geleitet, indem er sich stets an den Grundimpulsen des Zweiten Vatikanischen Konzils und noch grundlegender an der biblischen Botschaft orientiert hat. Papst Johannes Paul II. steht so als unermüdlicher und unerschrockener Zeuge des Glaubens vor uns, den er in zahllosen Predigten, Apostolischen Schreiben und vor allem in seinen vierzehn grossen Enzykliken uns nahe gebracht hat.
Dies alles ist nur möglich gewesen, weil Papst Johannes Paul II. seine Kraft und seinen Mut im Glauben an den Dreienen Gott und im Gebet gefunden hat. Er ist im Geheimnis Gottes ganz verwurzelt gewesen und hat im Vertrauen auf die von Gott her fliessende Liebe zum Menschen gelebt und gewirkt, von dem er stets betont hat, er sei der Weg der Kirche. Der christliche Gottesglaube ist das Fundament gewesen, auf dem er sich bewegt hat. Der Nachfolger des Petrus, des „Felsen“, ist unbeirrbar auf dem Felsen des Glaubens gestanden und hat wie ein Fels in der Brandung der heutigen Zeit gewirkt.
Wir erinnern uns alle an seinen energischen Zuruf bei seiner Amtseinsetzung als Papst, dass wir keine Angst haben sollen: „Non avete paura“. Wir brauchen deshalb keine Angst zu haben, weil wir Ehrfurcht vor Gott haben. Der heilige Papst Johannes Paul II. ist ein furchtloser Zeuge des Glaubens gewesen und steht vor uns als überzeugender Exeget des heutigen Evangeliums. Dafür sind wir ihm dankbar und lassen unseren Dank einmünden in das grosse Dankgebet der Kirche, in die Feier der Eucharistie. In ihr bringen wir Gott das „Lob seiner Herrlichkeit“ dar, wozu wir in ewiger Liebe von Gott her bestimmt sind; und in dieser Feier dürfen wir die schöne Wahrheit unseres Glaubens ganz persönlich erfahren: „Fürchtet euch nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen.“ Amen.
Lesung: Eph 1, 11-14
Evangelium: Lk 12, 1-7
[1] J. Ratzinger, „… zum Lob seiner Herrlichkeit“ (Eph 1, 12), in: Ders., Predigten. Homilien – Ansprachen – Meditationen. Zweiter Teilband = Gesammelte Schriften. Band 14/2 (Freiburg i. Br. 2019) 808-809.