DAS BEMÜHEN UM DIE HEILIGE SCHRIFT
IN DER TRADITION DER KATHOLISCHEN KIRCHE

 

Kurt Cardinal Koch

 

1. Zentralität des Wortes Gottes im Leben der Kirche

„Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes wie des Leibes Christi ohne Unterlass das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht.“[1] Mit diesen Worten bringt die Dogmatische Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Göttliche Offenbarung „Dei verbum“ die grundlegende Bedeutung des Wortes Gottes in den Heiligen Schriften im Leben der Kirche zum Ausdruck. Diese wichtige Aussage steht nicht zufälligerweise im Zusammenhang mit der Liturgie, die der privilegierte Ort ist, an dem das Wort Gottes verkündet wird. Damit wird auf die enge Verbindung verwiesen, die zwischen der Verkündigung des Wortes Gottes und der eucharistischen Feier, zwischen dem Tisch des Wortes und dem Tisch des Leibes Christi besteht. Diese unlösbare Zusammengehörigkeit ist bereits während des Zweiten Vatikanischen Konzils sinnenfällig dadurch zum Ausdruck gebracht worden, dass in der Eucharistie, die jeweils am Beginn jeder Hauptsitzung gefeiert worden ist, die Heilige Schrift in der Mitte der Petersbasilika zur Verehrung aufgestellt worden ist. Auf diese Weise ist die Zentralität des Wortes Gottes im Leben der Kirche sichtbar ins Glaubensbewusstsein gebracht worden.

Die Heilige Schrift ist das Fundament der Glaubensverkündigung der Kirche und auch ihrer stets notwendigen Erneuerung. Ein auch nur summarischer Blick in die Kirchengeschichte zeigt, dass sich die Kirche in krisenhaften Situationen stets darauf zurückbesonnen hat, dass der Verkündigung des Wortes Gottes im Leben der Kirche der Primat zukommen muss. Denken wir dabei zuerst an die beiden Gründer der Bettelorden, den Heiligen Franziskus und den Heiligen Dominikus. Beide wollten in erster Linie nicht neue Orden gründen, sondern die Kirche von Grund auf, nämlich vom Evangelium her erneuern. Indem sie in der evangelischen Lebensform das Evangelium wörtlich, „sine glossa“, leben und auf diese Weise das Volk Gottes von innen her erneuern wollten, haben sie der Kirche bleibend ins Stammbuch geschrieben, dass die echten Reformer der Kirche und der Gesellschaft die von Gottes Wort erleuchteten und geführten Heiligen sind.

Oder denken wir an Karl Borromäus, den grossen Bischof von Mailand, der, als er seinen Bischofssitz in der norditalienischen Metropole in Besitz genommen hat, eines der am weitesten verbreiteten und gravierenden Versäumnisse des Klerus in der fehlenden Predigt diagnostiziert und seine primäre Sendung als Bischof in der apostolischen Verkündigung gesehen hat, genauer darin, „Zeugen zu sein, die Mysterien Christi zu verkünden, das Evangelium jedem Geschöpf zu predigten“[2]. Borromäus hat denn auch darum gewusst, dass der Verkünder zunächst der Adressat des Wortes Gottes sein und sich von ihm berühren lassen muss. Denn um den Zeugendienst am Wort Gottes wahrnehmen zu können, muss der Zeuge mit dem Wort Gottes, das er verkündet, innerlich vertraut sein.

In dieser Tradition der kirchlichen Erneuerung, in der immer wieder der Primat des Wortes Gottes im Leben der Kirche zum Tragen gebracht worden ist, steht auch das Zweite Vatikanische Konzil, das ebenfalls eine innere Erneuerung der Kirche zum Ziel hatte. Die fundamentale Bedeutung des Wortes Gottes im Leben der Kirche hat das Konzil vor allem dadurch zum Ausdruck gebracht, dass es eine der grossen Konstitutionen der göttlichen Offenbarung gewidmet hat. In der Dogmatischen Konstitution „Dei verbum“ hat das Konzil die Lehre der Kirche über die göttliche Offenbarung und deren Vermittlung vorgelegt, „damit die ganze Welt im Hören auf die Botschaft des Heiles glaubt, im Glauben hofft und in der Hoffnung liebt“[3]. Von daher kann es auch nicht erstaunen, dass dieses Konzil entschieden betont hat, dass unter den hauptsächlichen Ämtern des Bischofs die Verkündigung des Wortes Gottes einen „hervorragenden Platz“ hat: „Die Bischöfe sind Glaubensboten, die Christus neue Jünger zuführen; sie sind authentische, das heisst mit der Autorität Christi ausgerüstete Lehrer. Sie verkündigen dem ihnen anvertrauten Volk die Botschaft zum Glauben und zur Anwendung auf das sittliche Leben und erklären sie im Licht des Heiligen Geistes, indem sie aus dem Schatz der Offenbarung Neues und Altes vorbringen.“[4] Das Konzil definiert den Bischof wie auch den Priester in erster Linie nicht von seinem sakramentalen Dienst, sondern von seinem Dienst am Wort Gottes her. Sinnenfällig wird dies in der Liturgie der Bischofsweihe mit dem Ritus zum Ausdruck gebracht, dass dem Weihekandidaten während der Weihepräfation das Evangelienbuch auf den Kopf gelegt wird, gleichsam als Last, die er zu tragen hat: „Der so Beladene wird zum Lastträger Gottes, zum Träger seines lebendigen Wortes Jesus Christus bestimmt.“[5]

Seitdem das Zweite Vatikanische Konzil die herausragende Bedeutung des Wortes Gottes im Leben der Kirche im allgemeinen und in der Sendung des Bischofs und des Priesters im besonderen unterstrichen hat, sind die Päpste nicht müde geworden, die Verkündigung des Evangeliums erneut in die Mitte des kirchlichen Lebens zu stellen. Papst Paul VI. hat in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii nuntiandi“ im Jahre 1975 in der evangelisatorischen Wirksamkeit der Kirche ihre elementarste Identitätsbestimmung wahrgenommen: „Evangelisieren ist in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität. Sie ist da, um zu evangelisieren.“[6] Papst Johannes Paul II. hat in seinem Apostolischen Schreiben „Novo millennio ineunte“, das er zum Abschluss des Heiligen Jahres 2000 verfasst und in dem er ein pastorales Programm für die Kirche am Beginn des dritten Jahrtausends vorgelegt hat, eine umfassende Neuevangelisierung angeregt und dabei eine besondere Aufmerksamkeit dem Hören und Verkünden des Wortes Gottes gewidmet: „Das ist mit Sicherheit eine Priorität für die Kirche am Beginn des neuen Jahrtausends.“[7] Um den Primat des Wortes Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche in den Mittelpunkt zu rücken, hat Papst Benedikt XVI. die Vollversammlung der Bischofssynode im Jahre 2008 dem Thema „Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche“ gewidmet und die Früchte dieser Synode in seinem Nachsynodalen Schreiben „Verbum Domini“ vertieft, und zwar in der Überzeugung, dass es „keine grössere Priorität“ als diese gibt: „dem Menschen von heute den Zugang zu Gott wieder zu öffnen, zu dem Gott, der spricht und uns seine Liebe mitteilt, damit wir leben in Fülle haben“[8] Und Papst Franziskus hat mit seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ im Jahre 2015 zu „einer neuen Etappe der Evangelisierung“ eingeladen, „die von dieser Freude geprägt ist“, und um damit „Wege für den Lauf der Kirche in den kommenden Jahren aufzuzeigen“[9].

Auch auf dem Weg der ökumenischen Wiedervereinigung der Christen ist die Heilige Schrift von grundlegender Bedeutung. Sie wird dann sichtbar, wenn man bedenkt, dass die Kirchenspaltungen in der Westkirche im 16. Jahrhundert mit einer kontroversen Lektüre und Interpretation  des Wortes Gottes begonnen und „in gewissem Sinn bis in die Bibel selbst hinein“ gereicht haben[10]. In der Ökumenischen Bewegung ist aber bewusst geworden, dass auch die Überwindung der Spaltungen nur auf dem Weg einer gemeinsamen Lektüre der Heiligen Schrift möglich werden kann. Darin besteht beispielsweise das grosse Geschenk, das uns mit der „Gemeinsamen Erklärung zu Grundfragen der Rechtfertigungslehre“ im Jahre 1999 in Augsburg gemacht worden ist, also jener Lehre, die zu einem der Hauptgründe für die Spaltung der Kirche im Abendland geworden ist, über die aber ein weitgehender ökumenischer Konsens festgestellt werden konnte, indem Protestanten und Katholiken gemeinsam auf das neutestamentliche Zeugnis gehört haben. Im gemeinsamen Hören des Wortes Gottes liegt eine grosse Kraft für die ökumenische Wiedervereinigung der Christen verborgen. Um die Einheit im Glauben wieder zu finden, müssen wir gemeinsam auf das in der Heiligen Schrift bezeugte Wort Gottes hören.

 

2. Verstehen und Auslegen der Heiligen Schrift

In diesem grösseren Zusammenhang muss der Frage nachgegangen werden, wie in Tradition und Gegenwart der Katholischen Kirche die Bibel gesehen, gelesen und ausgelegt wird. Diese Frage lässt sich am besten mit der Dogmatischen Konstitution über die Göttliche Offenbarung „Dei verbum“ beantworten, die der verstorbene Kardinal Carlo M. Martini als das „vielleicht schönste Dokument des Konzils“ gewürdigt hat[11]. Im dritten Kapitel, das der „göttlichen Inspiration“ und der „Auslegung der Heiligen Schrift“ gewidmet ist, ist von zwei Grundspannungen die Rede ist, von denen das Leben der Kirche mit dem Wort Gottes geprägt ist und denen wir uns zuwenden wollen.

 

a) Historische Exegese und Schriftauslegung im Geist der Kirche

Die erste Grundspannung wird deutlich in „Dei verbum“ in Artikel 12 angesprochen, in dem es heisst: „Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muss der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte.“ Mit diesen Worten werden in einer eindrücklichen Weise der ganze Anspruch und die grundlegende Bedeutung der historischen Methode der Schriftauslegung als eines unerlässlichen Teils der exegetischen Bemühungen herausgestellt. Auf der anderen Seite wird die eigentlich theologische Dimension der Schriftauslegung mit der Anweisung in Erinnerung gerufen, dass die Heilige Schrift „in dem Geist gelesen und ausgelegt“ werden muss, „in dem sie geschrieben wurde“. Diese Anweisung bedeutet konkret, dass die rechte Ermittlung des Sinnes der Heiligen Schrift erfordert, „dass man mit nicht geringerer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens“. Mit dieser Grundspannung wird dem gleichsam doppelt-einen Charakter der Heiligen Schrift Rechnung getragen, dass sie Wort Gottes ist, das aber im und durch Menschenwort ausgesprochen wird, indem in ihm Gottes lebendiges Wort an uns Menschen enthalten ist.

Von daher stellt sich die weitere Frage, wie beide Auslegungsweisen zusammengehen. Während die historisch-kritische Exegese gemäss ihren eigenen Regeln nach der Aussageabsicht der biblischen Schriftsteller fragt, dazu nach der eigentlichen Herkunft und dem ältesten Stadium eines Textes zurück fragt und damit auch der Fremdheit historischer Texte standhalten muss, betrachtet die Interpretation der Heiligen Schrift in dem Geist, in dem sie geschrieben worden ist, sie als Ganzheit im grossen geschichtlichen Ringen Gottes mit den Menschen und im Fragen der Menschen nach Gott. Eng damit zusammen hängt ein zweiter Unterschied: Während bei der historischen Schriftauslegung der einzelne Exeget nach dem authentischen Sinn eines biblischen Textes fragt und sein Bemühen in kritische Korrelation mit dem Konsens der Exegeten zu bringen versucht, ist es bei der Interpretation der Heiligen Schrift im Geist, in dem sie geschrieben worden ist, vor allem die kirchliche Gemeinschaft, die die Heilige Schrift auslegt, und zwar im Lebenszusammenhang der ganzen Überlieferung der Kirche, die zwar über die Heilige Schrift hinaus reicht, aber um sie als ihre Zentralität kreist, weil die Heilige Schrift gemäss ihrem wahren Wesen selbst Überlieferung ist. Die Aufgabe des Exegeten wird dabei von der Offenbarungskonstitution dahingehend umschrieben, dass er „auf eine tiefere Erfassung und Auslegung des Sinnes der Heiligen Schrift“ hinarbeitet, „damit so gleichsam aufgrund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reift“[12].

Trotz dieser grundlegenden Unterschiede gehören beide Bemühungen um die Heilige Schrift in einer bleibenden Spannung zusammen, wie dies bereits der grosse mittelalterliche Theologe Hugo von St. Viktor, den man mit Recht als „zweiten Augustinus“ bezeichnet hat, betont hat, indem er vor einer doppelten Gefahr gewarnt hat. Die eine Gefahr hat er mit dem Bildwort zum Ausdruck gebracht, Theologen würden sich wie Gelehrte der Grammatik benehmen, die das Alphabet nicht kennen. Die andere Gefahr besteht darin, dass man sich nur noch mit dem Alphabet beschäftigt und die schöne Harmonie der Grammatik aus den Augen verliert. Dass beide Gefahren überwunden werden müssen ist auch eines der entscheidenden Anliegen der Offenbarungskonstitution des Konzils und ihrer Wahrnehmung auch der zweiten Grundspannung, die mit der ersten zusammenhängt und ebenfalls in Artikel 12 von „Dei verbum“ verortet ist.

 

b) Wissenschaftliche Exegese und theologische Schriftauslegung

In diesem Artikel wird auf der einen Seite die Notwendigkeit der historisch-kritischen Methode, deren wesentlichen Elemente kurz beschrieben werden, bestätigt und aus der Tatsache abgeleitet, dass die in der Heiligen Schrift bezeugte Heilsgeschichte Gottes mit uns Menschen wirklich Geschichte und nicht Mythologie ist und deshalb mit den Methoden einer ernsthaften Geschichtswissenschaft betrachtet werden muss. Auf der anderen Seite fordert die Offenbarungskonstitution aber auch eine theologische Schriftauslegung, die von der Einheit der ganzen Schrift ausgeht. Dies bedeutet konkret, dass jeder biblische Text in seiner Beziehung zum Ganzen der Heiligen Schrift gelesen werden muss bis hin zur Ur-Einheit von Altem und Neuem Testament, genauer der „Bibliothek des Gottesvolkes, Israels wie der Kirche“[13]. Damit ist jene Methode anvisiert, die man heute als „kanonische Exegese“ zu bezeichnen pflegt, die aber im Kern bereits bei Johann Sebastian Drey, dem Begründer der Katholischen Tübinger-Schule im 19. Jahrhundert, greifbar ist: „Die Auslegung geschieht zwar immer zunächst an einzelnen Stellen, ihr Ziel aber ist das Verständnis des Ganzen… Ein solches Ganzes ist zuvörderst der einzelne Abschnitt eines Buches, so dann dieses selbst, weiter die sämmlichen Schriften eines biblischen Schriftstellers, zuletzt das Ganze der Bibel selbst als Kanon. Man sieht, wie der Kanon selbst hier als eine notwendige Idee eintritt.“[14]

Dort, wo sich beide methodologischen Arten, die Heilige Schrift zu lesen und auszulegen, ergänzen und sich gegenseitig herausfordern, wird der Reichtum der biblischen Botschaft nicht geschmälert, sondern profiliert. Dort hingegen, wo sich beide Weisen nicht mehr gegenseitig befruchten, öffnet sich ein tiefer Graben zwischen der geschichtlichen und der theologischen Auslegung der Heiligen Schrift, der ein grosses pastorales Problem darstellt. Dieses zeigt sich nicht nur in der oft beklagten Ratlosigkeit bei der Vorbereitung von Predigten an, sondern auch in der Schwierigkeit eines unbefangenen Zugangs zur lectio divina im Sinne der geistlichen Schriftlesung. Für das Leben und die Sendung der Kirche ist es deshalb von grundlegender Bedeutung, den gefährlichen Dualismus von Exegese und Theologie zu überwinden und dazu beide von der Offenbarungskonstitution geforderten Weisen der Schriftauslegung gleichermassen ernst zu nehmen: „Wo die Exegese nicht Theologie ist, kann die Heilige Schrift nicht die Seele der Theologie sein und umgekehrt, wo die Theologie nicht wesentlich Auslegung der Schrift in der Kirche ist, hat die Theologie kein Fundament mehr.“[15]

Diesem Problem muss noch näher auf den Grund gegangen werden.[16] Es ist in der Methodik der historisch-kritischen Exegese begründet, dass sie die Heilige Schrift als ein Buch der Vergangenheit betrachtet und dementsprechend von vergangenen Ereignissen und Deutungen handelt. Das Wort Gottes erscheint dann vornehmlich als ein Wort der Vergangenheit, das man historisch interpretieren muss. Diese Arbeit ist gewiss unerlässlich und für das Verständnis der Heiligen Schrift notwendig. Denn dem glaubenden Menschen muss es ein inneres Anliegen sein, genau hinzuhören, was der Text wirklich sagt, um ihn als solchen verstehen zu können. Dort jedoch, wo die historisch-kritische Exegese als alleiniger Zugang zur Heiligen Schrift praktiziert und damit verabsolutiert wird, entsteht jenes Problem, das Papst Benedikt XVI. bereits in einem früheren Aufsatz dahingehend zugespitzt hat: „Das Wort bloss ins Vergangene einhausen heisst, die Bibel als Bibel leugnen. Tatsächlich führt eine solche bloss historische, bloss auf das Gewesene bedachte Auslegung mit innerer Konsequenz zur Leugnung des Kanon und insofern zur Bestreitung der Bibel als Bibel.“[17]

 

3. Heilige Schrift und Kirche

Den Kanon als Kanon wirklich annehmen, bedeutet demgegenüber, das Wort Gottes über seinen historischen Augenblick hinaus zu lesen, dem Wort Gottes nicht allein als einem in der Vergangenheit ergangenen Wort zu begegnen, sondern als Wort, das Gott durch Menschen einer vergangenen Zeit den Menschen aller Zeiten als gegenwärtiges Wort schenkt, und deshalb das Volk Gottes als den eigentlichen Autor in den verschiedenen Autoren wahrzunehmen. Damit stellt sich von selbst die Frage nach dem Verhältnis zwischen Heiliger Schrift und Kirche.

 

a) Die Heilige Schrift im Lebensraum der Kirche

Auszugehen ist dabei davon, dass bereits das Entstehen der Heiligen Schrift ein Ausdruck des Glaubens der Kirche und die Bibel ein Buch der Kirche ist, das aus der kirchlichen Überlieferung hervorgegangen ist und durch sie weitergegeben wird, so dass das Werden der Heiligen Schrift und das Werden der Kirche als ein einziges Ursprungsgeschehen zu betrachten ist. Denn ohne das glaubende Subjekt der Kirche könnte man gar nicht von „Heiliger Schrift“ reden. Ohne die Kirche wäre die Bibel nichts anderes als eine historische Sammlung von Schriften, deren Entstehen sich durch ein ganzes Jahrtausend hindurch gezogen hat. Aus dieser Literatursammlung ist die Bibel als „ein Buch“, und zwar als „Heilige Schrift“ mit ihrer Zwei-Einheit von Altem und Neuem Testament, erst und nur durch das in der Geschichte wandernde Volk Gottes geworden. Die Heilige Schrift präsentiert sich vor allem deshalb als ein einziges Buch, weil sie ganz aus dem Boden des einen Volkes Gottes heraus gewachsen ist und weil folglich der Verfasser der Bibel das Gottesvolk selbst ist, nämlich zunächst Israel und dann die Kirche, wie der Neutestamentler Gerhard Lohfink hervorhebt: „Die Heilige Schrift ist nicht ein Paket von 73 Büchern, das nachträglich zusammengeschnürt worden ist, sondern sie ist gewachsen wie ein Baum. Am Ende wurden in diesen Baum noch einmal ganz neue Zweige eingepfropft: das Neue Testament. Aber auch diese Zweige nähren sich von dem Saft des einen Baumes und werden von seinem Stamm getragen.“[18]

Im Licht dieser engen Zusammengehörigkeit von Heiliger Schrift und Kirche ist auch die Frage des biblischen Kanons neu zu betrachten. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass der Kanon nicht einfach vom Himmel gefallen ist, aber auch nicht gleichsam vorgängig zur Kirche subsistiert, sondern innerhalb der Kirche entstanden ist: „Zusammen mit der Feststellung, dass die Kanonbildung bewusst der Einheit der Lehre der Kirche in Abhebung zur Vielfalt und Widersprüchlichkeit der hellenistischen Philosophien dienen soll, zeigt dies alles, dass die Kanonbildung eine bewusste Schöpfung der werdenden Kirche ist.“[19] In einem intensiven Ringen mit grosser Anstrengung hat die werdende Kirche in den verschiedenen Büchern den authentischen Ausdruck und den Masstab ihres eigenen Glaubens gefunden, so dass es ohne den Glauben der werdenden Kirche keinen Kanon geben könnte.[20]

Die Heilige Schrift im Sinne der Zusammenfügung der verschiedenen Schriften ist das Werk der kirchlichen Überlieferung, zu der bei diesem Prozess als konstitutives Element auch die herausragende Bedeutung des römischen Bischofsstuhles gehört hat. Insofern lässt sich auch historisch zeigen, dass die Anerkennung Roms als „Kriterium des rechten apostolischen Glaubens“ älter ist „als der Kanon des Neuen Testaments, als die <Schrift>“[21]. Das Verhältnis zwischen Heiliger Schrift und Kirche als Schöpferin, Tradentin und Exegetin des biblischen Kanons lässt sich von daher dahingehend konturieren, dass auf der einen Seite die Heilige Schrift nicht ohne und nicht gegen die Kirche, sondern nur in ihr Heilige Schrift ist, dass die Kirche aber auf der anderen Seite, um Kirche zu sein und zu bleiben, die Heilige Schrift als jene Wirklichkeit festhalten muss, in der der Glaube der Kirche verbindlich ausgesprochen ist, und dass die Kirche nicht über dem Wort Gotte steht, sondern ihm zu Diensten ist, wie die Offenbarungskonstitution des Konzils ausdrücklich hervorhebt[22]. Insofern kommt gerade im Bedenken des Verhältnisses von Heiliger Schrift und Kirche deren tiefstes Wesen zum Ausdruck, dass sie sich „nicht selbst zu eigen ist, sondern ihr Eigentlichstes gerade in dem hat, was ihr nicht selbst gehört, sondern was sie empfangen hat“[23]

 

b) Das Wort Gottes und die weiteren Konstitutiva der Kirche

Die Heilige Schrift ist und bleibt nur ein lebendiges Buch mit seinem Volk als jenem Subjekt, das es empfängt und sich aneignet; und umgekehrt kann dieses Volk Gottes ohne die Heilige Schrift nicht existieren, weil es in ihr seine Lebensgrundlage, seine Berufung und seine Identität hat. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Heiligen Schrift und der Kirche lässt sich von daher nur beantworten, wenn man sie auf dem Hintergrund von jenen vier Grundvorgängen betrachtet, mit denen die Kirche entstanden ist und die zu ihren bleibenden Wesensmerkmalen gehören.

Der erste Grundvorgang besteht, wie bereits sichtbar geworden ist, in der Ausbildung des Kanons der Heiligen Schrift, die gegen Ende des zweiten Jahrhunderts zu einem gewissen Abschluss gekommen ist, sich aber noch weit in die folgenden Jahrhunderts hinein gezogen hat. Der historische Sachverhalt, dass die Literatur, die wir heute „Neues Testament“ nennen, aus einer Vielzahl von damals im Umlauf befindlichen literarischen Erzeugnissen ausgewählt und der griechische Kanon der jüdischen Bibel als „Altes Testament“ dem „Neuen Testament“ zugeordnet worden ist und dann zusammen die „Heilige Schrift“ bildet, zeigt, dass nicht nur die Definition des biblischen Kanons ein Werk der frühen Kirche ist, sondern dass auch die Konstituierung des biblischen Kanons und die Konstituierung der Ordnungsgestalt der frühen Kirche im Grund zwei Seiten desselben Vorgangs gewesen sind.

Bei der Auswahl jener Schriften, die von der Kirche schliesslich als Heilige Schrift anerkannt worden sind, hat die frühe Kirche einen Masstab verwendet, den sie als regula fidei, als Glaubensregel bezeichnet hat. Dabei handelt es sich um ein kurz gefasstes  Summar der wesentlichen Inhalte des kirchlichen Glaubens, das zunächst nicht bis ins Einzelne festgelegt  gewesen ist, das aber in den verschiedenen Taufbekenntnissen der frühen Kirche eine von der Liturgie her geformte Gestalt erhalten und in den verschiedenen konziliaren Definitionen seine Fortsetzung gefunden hat, in denen das Ringen der frühen Kirche um die Unterscheidung des Christlichen eine verbindliche Form angenommen hat. Die grundlegenden Glaubensbekenntnisse  der ganzen Christenheit stellen insofern den zweiten Fixpunkt der frühen Kirche dar, und sie bilden „die eigentliche <Hermeneutik> der Schrift, den aus ihr gewonnenen Schlüssel, um sie ihrem Geist gemäss auszulegen“[24].

Die Lesung der Heiligen Schrift und das Rezitieren des Apostolischen Glaubensbekenntnisses sind in der frühen Kirche in erster Linie gottesdienstliche Akte der um den auferstandenen Herrn versammelten Gemeinde gewesen. Die frühe Kirche hat deshalb auch die Grundformen des christlichen Gottesdienstes geschaffen, die nicht  nur das bleibende Fundament des kirchlichen Lebens darstellen, sondern auch als verbindlicher Bezugspunkt  für jede liturgische Erneuerung betrachtet werden müssen. So enthält die früheste Beschreibung der Liturgie der Eucharistie bei Justinus dem Märtyrer in der Mitte des zweiten Jahrhunderts bereits die wesentlichen Elemente, die in allen grossen Ritusfamilien die gleichen geblieben sind und uns auch heute noch vertraut sind. Da der Gottesdienst der wichtigste Ort ist, an dem die Heilige Schrift gelesen, das Wort Gottes verkündet und der Glaube bekannt wird, gehört auch die Liturgie zu den Grundvorgängen der Kirche und stellt einen wichtigen locus theologicus dar, den die kirchliche Tradition mit der Weisheit zum Ausdruck gebracht hat, dass das Gesetz des Betens auch das Gesetz des Glaubens ist: „lex orandi – lex credendi“.

Das Wort Gottes, das im Sinne der regula fidei ausgelegt und im Gottesdienst der Kirche verkündet wird, findet in der Sicht der frühen Kirche seine primäre Gegenwart im Zeugen dieses Wortes. Denn Wort Gottes und persönlicher Zeuge dieses Wortes gehören in dem Sinne zueinander, dass nicht nur der Zeuge vom Wort Gottes her und für das Wort Gottes lebt, sondern auch das Wort Gottes durch den persönlich verantwortlichen Zeugen wirkt. In der frühen Kirche hat sich deshalb die Überzeugung von der apostolischen Sukzession im Bischofsamt herausgebildet, das im Dienst der treuen Überlieferung des Wortes Gottes und der apostolischen Tradition steht.[25] Dafür ist der nachbiblische Brief des Clemens von Rom ein hervorragendes Zeugnis. Er ist im Jahre 96 in Rom, der bald führenden Gemeinde im Westen, verfasst worden und adressiert gewesen an die Gemeinde in Korinth, einer frühen paulinischen Gemeinde, in der er regelmässig im Gottesdienst verlesen worden ist und deshalb beinahe „kanonischen Rang“ erreicht hat[26]. Dieser Brief dokumentiert die erstaunliche Tatsache, dass es lange vor Abschluss der Kanonbildung in der ganzen Kirche – im Westen wie im Osten – nur noch eine, nämlich bischöfliche Ordnung der kirchlichen Ämter gegeben hat und dass die Verkündigung des Wortes Gottes und seine authentische Auslegung an das Bischofsamt gebunden sind. Insofern muss die „Herausbildung, theologische Begründung und institutionelle Stärkung des Bischofsamtes“ als „eines der wichtigsten Ergebnisse der nachapostolischen Entwicklung“ betrachtet werden.[27]

 

c) Das Wort Gottes in Schrift, Tradition und Lehramt

Kanon der Heiligen Schrift, Glaubensregel, Grundform des Gottesdienstes und apostolische Sukzession im Bischofsamt sind die vier Grundgegebenheiten der frühen Kirche. Sie machen sichtbar, dass man die Heilige Schrift nicht aus dem Gesamtgefüge des kirchlichen Glaubenslebens herauslösen kann, sondern dass sie in diesem Kontext zu interpretieren und zu verstehen ist. Dafür Sorge zu tragen ist in der Katholischen Kirche die besondere Aufgabe des Lehramtes. Seine Verantwortung liegt darin, in der Kirche die Unversehrtheit, Identität und Integrität der Heiligen Schrift zu garantieren. In diesem Sinn hat bereits Irenäus von Lyon angesichts der von den Gnostikern verwendeten so genannten „apokryphen“ Schriften die „Bewahrung der apostolischen Überlieferung, ohne Schriften zu erfinden“, zu den Hauptaufgaben des Bischofsamtes gezählt[28].

Es darf freilich nicht verschwiegen werden, dass das kirchliche Lehramt im Blick auf die Exegese in der Vergangenheit nicht selten den Bereich der Glaubensgewissheit in ungebührlicher Weise überdehnt und damit seiner Glaubwürdigkeit geschadet hat.[29] Aus dieser Geschichte ist heute zu lernen, dass das Lehramt dem wissenschaftlichen Fragen nach Vielfalt und Weite in der Interpretation von historischen Aussagen breiten Raum lassen muss. Auf der anderen Seite kann dies aber nicht bedeuten, dass das Lehramt hinsichtlich der Schriftauslegung überhaupt kein Wort mehr zu sagen hätte, zumal dort, wo die Interpretation der Heiligen Schrift gegen die Kirche und ihr Credo gerichtet ist. Das Lehramt hat vielmehr die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass die Auslegung der Heiligen Schrift im Dienst des Glaubens der Kirche geschieht. Das Lehramt kann dabei freilich nicht einfach im Sinne eines formalen Prinzips handeln, sondern nur im Sinne der inhaltlichen Bindung an das Credo der Kirche. In diesem Dienst wird das kirchliche Lehramt von der Päpstlichen Bibelkommission unterstützt, die im Jahre 1993 ihr wegweisendes Dokument „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ veröffentlicht hat.

Analoges gilt auch für das Verhältnis zwischen Heiliger Schrift und kirchlicher Tradition, beziehungsweise zwischen der Exegese der Heiligen Schrift und ihrer Interpretation in der Wirkungsgeschichte, wie die Offenbarungskonstitution des Konzils hervorhebt: „Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift sind eng miteinander verbunden und haben aneinander Anteil.“[30] Demgemäss kann die Heilige Schrift nicht ohne Überlieferung, die Überlieferung nicht ohne Kirche und Kirche nicht ohne die beiden anderen gedacht werden. Nicht zuletzt aufgrund von Ergebnissen der exegetischen und historischen Forschung über Schrift und Tradition ist in katholischer Sicht ein striktes Gegenüber der Schrift zur Kirche im Sinne eines forcierten „Sola-Sciptura-Prinzips“ ausgeschlossen, wie Joseph Ratzinger hervorhebt: Die Katholische Kirche „kennt nicht ein der Kirche gegenüber selbständiges, quasihypostatisches Wort, sondern das Wort lebt in der Kirche, wie die Kirche vom Wort lebt – eine Relation gegenseitiger Abhängigkeit und Beziehung.“[31] In katholischer Sicht ausgeschlossen ist freilich auch die prinzipielle Verneinung einer richterlichen Funktion der Heiligen Schrift in der Kirche. Die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils geht von einem vieldimensionalen Zusammenspiel von Heiliger Schrift, Tradition und Kirche aus, weshalb man mit Henri de Lubac urteilen darf: „Nichts also widerspräche dem Geist dieser Konstitution mehr als eine Art feindlicher Konkurrenz zwischen Schrift und Tradition so, als ob man der einen wegnähme, was man der anderen zuspricht. Noch niemals hatte ein Konzilstext das Traditionsprinzip so gut in seiner ganzen Weite und Komplexität herausgestellt; noch nie wurde der Heiligen Schrift so viel Raum gewährt.“[32]

 

4. Das Wort Gottes als Person, Tradition und Schrift

In diesem grösseren Gesamtzusammenhang stellt sich die grundsätzliche Frage, von welchem Verständnis von Wort Gottes die katholische Sicht ausgeht. Ein auch nur summarischer Blick in die heutige kirchliche und theologische Landschaft zeigt, dass sich zwei Antwortrichtungen einander gegenüber stehen. Die eine Richtung pflegt das Wort Gottes sofort mit der Heiligen Schrift zu identifizieren, woraus sich leicht, wie soeben angesprochen, eine gewisse Hypostasierung des Wortes Gottes ableitet. Die andere Richtung geht von einem umfassenderen Verständnis des Wortes Gottes aus und hebt hervor, dass das Wort Gottes in erster Linie nicht Schrift, sondern eine personale Wirklichkeit ist, dass nämlich Jesus Christus selbst das lebendige Wort Gottes ist. In diesem grundlegenden Sinn geht das Wort Gottes der Heiligen Schrift voraus und ist in erster Linie eine Person, nämlich der Fleisch gewordene Sohn Gottes. In ihm hat sich Gott selbst offenbart; und diese Offenbarung hat ihre authentische Bezeugung und Vermittlung in der Heiligen Schrift gefunden.

Diese zweite Richtung entspricht der katholischen Sicht, die im Apostolischen Schreiben von Papst Benedikt XVI. „Verbum domini“ besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Dies zeigt sich vor allem darin, dass in ihm der Begriff „Wort Gottes“ in einem analogen Sinn, nämlich als „Symphonie des Wortes“ verstanden[33] und dabei ausgegangen wird von der Kennzeichnung des in der Bibel offenbaren Gottes als eines Gottes, der spricht, dann von der kosmischen Dimension des Wortes, in dem alles, was ist, entstanden ist, gehandelt und von daher übergegangen wird zur christologischen Fundamentalbedeutung des Wortes Gottes, das Fleisch geworden ist und sich im Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche schenkt. Erst in diesem grossen heilsgeschichtlichen Zusammenhang wird sodann von der Gegenwart des Wortes Gottes in der apostolischen Tradition der Kirche und in der Heiligen Schrift gesprochen.

Dieser katholischen Sicht des Wortes Gottes liegt auch ein spezifisches Verständnis der Offenbarung Gottes zugrunde. Darunter ist nicht einfach die Mitteilung von göttlichen Wahrheiten zu verstehen, sondern das personal-geschichtliche Handeln Gottes und damit ein lebendiges, personales und gemeinschaftliches Geschehen: „Offenbarung ist im christlichen Bereich nicht begriffen als ein System von Sätzen, sondern als das geschehene und im Glauben immer noch geschehende Ereignis einer neuen Relation zwischen Gott und dem Menschen.“[34] Wenn Gott sich in der Geschichte und darin zuhöchst in der Person Jesus Christus offenbart hat, dann ist unter ihr mehr zu verstehen als das Geschriebene. Gottes Offenbarung liegt vielmehr der Heiligen Schrift voraus und „schlägt sich in ihr nieder, ist aber nicht einfach mit ihr identisch“[35]. Die Offenbarung Gottes ist mehr als ihr Materialprinzip, nämlich die Heilige Schrift; sie ist vielmehr „Leben, das in der Kirche lebt und so erst die Schrift lebendig macht und ihre verborgenen Tiefen aufleuchten lässt“[36]. Demgemäss sind Schrift und Überlieferung nicht, wie dies in der Tradition teilweise gesehen worden ist, die beiden Quellen der Offenbarung, sondern die geschichtlichen Übermittlungsgestalten der Offenbarung, wie Joseph Ratzinger bereits am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils betont hat: „In Wirklichkeit sind ja nicht Schrift und Überlieferung die Quellen der Offenbarung, sondern die Offenbarung, das Sprechen und Sich-Selbst-Enthüllen Gottes ist der unus fons, aus dem die beiden rivoli Schrift und Überlieferung hervorfliessen.“[37]

Daraus ergibt sich die bedeutsame Konsequenz, dass sich der christliche Glaube nicht zu einer Inlibration oder gar Inverbation bekennt, sondern im elementaren Sinn zur Inkarnation des Gottessohnes im Menschen Jesus von Nazareth. In diesem grundlegenden Sinn ist das Christentum nicht – wie beispielsweise das Judentum und in anderer Weise der Islam – eine Buchreligion, sondern Bekenntnis zu einer Person, in der sich der göttliche Urgrund aller Wirklichkeit konkret gezeigt und sich als Liebe offenbart hat, und damit eine innere Freundschaftsbeziehung zu Jesus Christus als dem lebendigen Wort Gottes, ohne die letztlich auch das Papier der Heiligen Schrift geduldig bliebe. Das Spezifische des Christentums lässt sich insofern mit dem katholischen Neutestamentler Thomas Söding in der zentralen Aussage verdichten: „Das Christentum hat eine Heilige Schrift, ist aber keine Buchreligion. Im Mittelpunkt des Christentums steht der Mensch: Jesus von Nazareth. Durch ihn wird das Menschliche mit dem Göttlichen verbunden und Gott mit dem Menschen.“[38]

 

5. Mit der Heiligen Schrift leben

Um Jesus Christus als das lebendige Wort Gottes erkennen und kennen zu können, ist die Heilige Schrift unerlässlich, wie Hieronymus, der grosse Exeget in der Kirchenväterzeit, mit der prägnanten Formel zum Ausdruck gebracht hat: „Wer die Schriften nicht kennt, kennt weder die Macht Gottes noch seine Weisheit. Die Schrift nicht kennen, heisst Christus nicht kennen.“[39] Die Frage, wer Christus ist, und die Frage, wie die Heilige Schrift zu lesen ist, hängen deshalb unlösbar zusammen. Wenn Jesus Christus das lebendige Wort Gottes ist und sich gleichsam in den Wörtern der Heiligen Schrift selbst auslegt, dann muss man sich, um Christus zu kennen, mit der Heiligen Schrift abgeben und sich mit ihr vertraut machen. Umgekehrt bleibt ohne persönliche Begegnung mit Christus auch das heilige Papier der Schrift profan. Es beginnt nur zu sprechen, wenn man in einer persönlichen Beziehung mit Jesus Christus in der Glaubensgemeinschaft der Kirche lebt.

Es kommt deshalb entscheidend darauf an, wie wir mit der Heiligen Schrift umgehen. Denn wir können in der Heiligen Schrift letztlich nur das finden, was wir in ihr suchen. Wenn wir in ihr nichts suchen, werden wir in ihr auch nichts finden. Wenn wir in ihr nur nach historischen Gegebenheiten suchen, werden wir in ihr auch nur Historisches finden. Wenn wir in ihr Gott suchen, werden wir ihn finden, wie der Dichter Heinrich Heine sensibel festgestellt hat: „Mit Fug nennt man diese (sc. die Bibel) auch die Heilige Schrift; wer seinen Gott verloren hat, der kann ihn in diesem Buche wieder finden, und wer ihn nie gekannt, dem weht hier entgegen der Odem des göttlichen Wortes.“

Der Odem des göttlichen Wortes trägt auch die Kraft in sich, die Hörer des Wortes zur Gemeinschaft zusammen zu führen. Diese Kraft tritt sehr schön zu Tage in der biblischen Szene bei Lukas, dass viele Menschen bei Jesus sind, während seine Mutter und seine Brüder draussen warten und Jesus sehen möchten (Lk 8, 19-21). Diese Szene bildet für Jesus den Anlass, um über seine wahren Verwandten zu reden, die nicht einfach mit seinen biologisch Verwandten identisch sind. Die wahren Verwandten Jesu, nämlich seine Mutter und seine Brüder, sind vielmehr diejenigen, „die das Wort Gottes hören und danach handeln“. Jesus zeigt damit, was der innerste Kern der kirchlichen Glaubensgemeinschaft ausmacht. Es ist das Hören und das Tun des Wortes Gottes, das Gemeinschaft und sogar Verwandtschaft mit Jesus begründet. Das Hören und das Tun des Wortes haben familiarisierende und kirchenkonstituierende Wirkung: Die wahre Familie Jesu ist der Jüngerkreis und folglich die Kirche, und zwar aufgrund des Hörens des Wortes Gottes.

Wenn der ganze Akzent auf das Hören des Wortes Gottes gelegt wird, dann ist uns dabei ans Herz gelegt, dass uns dieses Wort voran geht und auf uns zu kommt und dass wir es zuerst empfangen und annehmen müssen. Diese für das christliche Leben elementare Perspektive hat vor allem Paulus immer wieder zum Leuchten gebracht, indem er betont hat, dass er das Entscheidende des christlichen Glaubens nicht selbst erdacht hat, dass er vielmehr nur weitergeben konnte und wollte, was er selbst empfangen hat (1 Kor 15, 3). Diese Perspektive ist auch wesentlich im Begriff der Offenbarung enthalten. Weil eine Offenbarung, die nicht angenommen wird, auch niemandem offenbar werden kann, gehört zum Begriff der Offenbarung auch das sie empfangende Subjekt, wie bereits der erste Satz der Offenbarungskonstitution zum Ausdruck bringt: „Dei verbum religiose audiens et fidenter proclamans“. Demgemäss hat Gottes Offenbarung eine konkrete Zielrichtung und zielt auf das empfangsbereite Hören des Wortes Gottes.

Die Ikone für dieses Empfangen des Wortes Gottes im Leben des Christen und der Kirche finden wir in der Heiligen Schrift in der Gestalt Marias. In ihr begegnen wir jener Frau, die das Wort Gottes ganz in sich aufgenommen hat, um es der Welt schenken zu können, und die auch nach der Geburt des Wortes Gottes jedes Wort, das von Gott kommt, in ihrem Herzen erwogen hat. Vor allem der Evangelist Lukas zeichnet Maria als einen Menschen, der für das Wort Gottes ganz Ohr ist, wie dies vor allem in drei biblischen Szenen sichtbar ist:

Bei der Verkündigung der Geburt Jesu heisst es, dass Maria über den Gruss des Engels erschrak und „überlegte, was dieser Gruss zu bedeuten habe“ (Lk 1, 29). Das Wort, das der Evangelist hier für „überlegen“ verwendet, verweist in der griechischen Sprache auf das Wort „Dialog“. Lukas bringt damit zum Ausdruck, dass Maria mit dem Wort Gottes, das ihr entgegen kommt, in persönliche und intime Zwiesprache eintritt, einen stillen Dialog mit ihm führt und den tieferen Sinn dieses Wortes ergründet.

Ähnlich verhält sich Maria in der Weihnachtsgeschichte nach der Anbetung des Kindes in der Krippe durch die Hirten: „Maria bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach“ (Lk 2, 19). Maria übersetzt das Weihnachtsereignis in das Wort und vertieft sich in das Wort, so dass es im Erdreich ihres Herzens Same werden kann.

Ein drittes Mal ruft Lukas dieses Bildwort in Erinnerung bei der Szene des zwölfjährigen Jesus im Tempel: „Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen“ (Lk 2, 50). Ihre ganze Brisanz erhält diese Bemerkung freilich erst vom vorauf gehenden Satz her: „Sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte.“ Lukas will damit zum Ausdruck bringen, dass Gottes Wort selbst für den glaubenden und deshalb für Gott geöffneten Menschen nicht immer sofort verständlich ist und dass es deshalb Geduld und Demut braucht, mit der Maria das zunächst Unverstandene in ihr Herz hinein nimmt und es wirken lässt, um es innerlich verarbeiten zu können.

In diesen drei Szenen wird sichtbar, dass Maria für das Wort Gottes ganz Ohr und in ihm daheim ist. In dieser Grundhaltung ist Maria Urbild und Urgestalt von Kirche, genauer „Kirche im Ursprung“[40], die eben von denen gebildet wird, „die das Wort Gottes hören und danach handeln“. Maria braucht deshalb nicht zwischen den christlichen Konfessionen zu stehen; wir dürfen in ihr vielmehr eine hilfreiche Begleiterin auf dem Weg zur Einheit der Christen sehen, die uns nur im gemeinsamen Hören auf das Wort Gottes geschenkt wird. Als Urbild von Kirche zeigt uns Maria in exemplarischer Weise, welchen Umgang wir Christen in der Kirche mit dem Wort Gottes pflegen sollen.

Dies gilt auch von einer zweiten bedeutenden Gestalt in der Heiligen Schrift, nämlich von Johannes dem Täufer. Er wird im Neuen Testament als „Stimme“ bezeichnet, während Christus das „Wort“ genannt wird. Mit diesem Verhältnis von Wort und Stimme lässt sich der christliche Umgang mit dem Wort Gottes am besten verdeutlichen: Wie der sinnliche Klang, nämlich die Stimme, die das Wort von einem Menschen zu einem anderen trägt, vorüber geht, während das Wort bleibt, so hat auch in der kirchlichen Glaubensgemeinschaft die menschliche Stimme keinen anderen Sinn als den, das Wort Gottes zu vermitteln; danach kann und muss sie wieder zurücktreten, damit das Wort im Mittelpunkt bleibt.

Sinnlich-lebendige Stimmen für das vorgängige Wort Gottes zu sein: dazu sind wir alle berufen, die im Dienst der Verbreitung der Bibel und ihrer Leben ermöglichenden, verwandelnden und befreienden Botschaft stehen. Glaubwürdige Stimmen für das Wort Gottes können wir aber nur sein, wenn wir selbst im Wort Gottes, das uns in der Heiligen Schrift begegnet, daheim sind. Für dieses Daheimsein haben die Kirchenväter das tiefe Wort geprägt, die Heilige Schrift sei wie ein geistiges Eden, in dem man mit dem lebendigen Gott spazieren und die Schönheit und Harmonie seines Heilsplanes bewundern kann. Zu einem solchen Spaziergang mit Gott und seinem lebendigen Wort laden auch die jährlichen Einkehrtage ein, zu denen Sie, verehrte Directors of American Bible Society, hier in Rom zusammengekommen sind und für die ich Ihnen alles Gute und Gottes begleitenden Segen wüsche.

 

 

 

[1]  Dei Verbum, Nr. 21.

[2]  Zit. bei G. Alberigo, Karl Borromäus. Geschichtliche Sensibilität und pastorales Engagement (Münster 1995) 39-40.

[3]  Dei verbum, Nr. 1.

[4]  Lumen gentium, Nr. 25.

[5]  J. Haas, Christus-Träger Kardinal Julius Döpfner. Kardinal Joseph Ratzinger erinnert an seinen Vorgänger als Erzbischof von München (Eichstätt 2005) 6.

[6]  Paul VI., Evangelii nuntiandi, Nr. 14.

[7]  Johannes Paul II., Novo milleniio ineunte, Nr. 40.

[8]  Benedikt XVI., Verbum Domini, Nr. 2.

[9]  Franziskus, Evangelii gaudium, nr. 1.

[10]  J. Ratzinger, Die erste Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils. Ein Rückblick (Köln 1963) 60.

[11]  C. M. Martini, Die Bischofssynode über das Wort Gottes, in: Stimmen der Zeit 133 (2008) 291-296, zit. 291.

[12]  Dei verbum, Nr. 12.

[13]  Th. Söding, Gotteswort durch Menschenwort. Das Buch der Bücher und das Leben der Menschen, in: K.-H. Kronawitter / M. Langer (Hrsg.), Von Gott und der Welt. Ein theologisches Lesebuch (Regensburg 2008) 212-223, zit. 216.

[14]  J. S. Drey, Kurze Einleitung in das Studium der Theologie mit Rücksicht auf den wissenschaftlichen Standpunkt und das katholische System 1819, § 160, in: M. Kessler und M. Seckler (Hrsg.), Theologie, Kirche, Katholizismus. Beiträge zur Programmatik der Katholischen Tübinger Schule (Tübingen 2003) 261.

[15]  Benedikt XVI., Reflexionen zur Bibelexegese. Intervention an der Bischofssynode am 14. Oktober 2008, zitiert in: Verbum domini, Nr. 35.

[16]  Vgl. B. Körner, Die Bibel als Wort Gottes auslegen. Historisch-kritische Exegese und Dogmatik (Würzburg 2011).

[17]  J. Cardinal Ratzinger, Perspektiven der Priesterausbildung heute, in: Ders. u. a., Unser Auftrag. Besinnung auf den priesterlichen Dienst (Würzburg 1990) 11-38, zit. 28.

[18]  G. Lohfink, Bibel ja – Kirche nein. Kriterien richtiger Bibelauslegung (Bad Tölz 2004) 117.

[19]  I. Frank, Der Sinn der Kanonbildung (Freiburg i. Br. 1971) 204.

[20]  Vgl. Th. Söding, Einheit der Heiligen Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons (Freiburg i. Br. 2005).

[21]  J. Kardinal Ratzinger, Zur Gemeinschaft gerufen. Kirche heute verstehen (Freiburg i. Br. 1991) 65.

[22]  Dei verbun, Nr. 10.

[23]  J. Ratzinger, Kommentar zu These VI, in: Internationale Theologenkommission. Die Einheit des Glaubens und der theologische Pluralismus (Einsiedeln 1973) 36-42, zit. 41.

[24]  J. Ratzinger – Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zu Auferstehung (Freiburg i. Br. 2015) 117.

[25]  Vgl. K. Koch, Die apostolische Dimension der Kirche im ökumenischen Gespräch, in: Communio. Internationale katholische Zeitschrift 40 (2011) 234-252.

[26]  Clemens von Rom, Epistola ad Corinthos. Übersetzt und eingeleitet von G. Schneider (Freiburg i. Br. 1991) 34.

[27]  E. Dassmann. Ämter und Dienste in den frühchristlichen Gemeinden (Bonn 19949230.

[28]  Irenäus von Lyon, Adversus haereses 4, 32, 8.

[29]  Vgl. J. Cardinal Ratzinger, Kirchliches Lehramt und Exegese. Reflexionen aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der Päpstlichen Bibelkommission, in: Communio. Internationale katholische Zeitschrift 32 (2003) 522-529.

[30]  Dei verbum, Nr. 9.

[31]  J. Ratzinger, Das geistliche Amt und die Einheit der Kirche, in: Ders., Das neue Volk Gottes. Entwürfe zur Ekklesiologie (Düsseldorf 1969) 105-129, zit. 106.

[32]  H. de Lubac, Die göttliche Offenbarung. Kommentar zum Vorwort und zum Ersten Kapitel der Dogmatischen Konstitution „Dei verbum“ des Zweiten Vatikanischen Konzils (Einsiedeln 2001) 251.

[33]  Benedikt XVI., Verbum domini, Nr. 7.

[34]  J. Ratzinger. Das Problem der Dogmengeschichte in der Sicht der katholischen Theologie (Köln und Opladen 1966) 19.

[35]  J. Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben. Erinnerungen (Stuttgart 1998) 84.

[36]  J. Ratzinger, Bemerkungen zum Schema „de fontibus revelationis“ (1962), in: R. Voderholzer – Ch. Schaller – F.-X. Heibl (Hrsg.), Mitteilungen Institut Papst Benedikt XVI. 2 (Regensburg 2009) 36-48, zit. 41.

[37]  Ebda. 37.

[38]  Th. Söding, Gotteswort durch Menschenwort. Das Buch der Bücher und das Leben der Menschen, in: K.-H. Kronawitter / M. Langer (Hrsg.), Von Gott und der Welt. Ein theologisches Lesebuch (Regensburg 2008) 212-223, zit. 219.

[39]  Hieronymus, Prolog zum Jesajakommentar, in: PL 24, 17.

[40]  J. Cardinal Ratzinger / H. U. von Balthasar, Maria – Kirche im Ursprung (Einsiedeln 1997).