Predigt in der Ökumenischen Vesper in der Basilika des Klosters Wiblingen,
Ulm, am 2. April 2017

Geistlicher Appell zur Einheit

 

Der Brief an die Epheser, aus dessen viertem Kapitel wir einen Abschnitt gehört haben, enthält die bedeutendsten theologischen Aussagen im Neuen Testament über die Kirche und ist ein leidenschaftlicher geistlicher Appell an alle Getauften, die Einheit in der Kirche und die Einheit der Kirche zu wahren. Mit wünschenswerter Klarheit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Einheit eine Grundkategorie des christlichen Glaubens ist und bleibt und so sehr zur Kirche gehört, dass sich der christliche Glaube ohne Suche nach Einheit selbst aufgeben würde.

 

Ein Haupt und ein Leib

Wie ernst es Paulus mit diesem Appell meint, wird zunächst an der Feststellung deutlich, dass er aus dem Gefängnis schreibt, in dem er sich „um des Herrn willen“ aufhält (4, 1). Denn in einer solchen bedrängenden Situation gibt man sich nicht mit Allotria ab, sondern bringt das zum Ausdruck, was einem wirklich auf der Seele brennt. Wie wichtig Paulus die Einheit der Kirche ist, wird noch mehr daraus ersichtlich, dass er sie in der Geschichte Gottes mit seiner Menschheit begründet: Bereits vor der Erschaffung der Welt hat Gott durch Christus die Kirche erwählt und sie als sein Volk zusammengerufen. Alle Glieder der Kirche sind durch die Taufe der Macht der Finsternis entrissen und mit Christus innig verbunden. In der Kirche ist deshalb ein neues Menschengeschlecht entstanden, in dem Christus Frieden gestiftet hat.

                Aus dieser heilsgeschichtlichen Schau werden im zweiten Teil des Briefes ethische Folgerungen gezogen, deren erste in der Pflicht besteht, „die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält: Ein Leib und ein Geist – ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller“ (4, 3-4). Die Einheit der Kirche folgt aus dem Bekenntnis zu Jesus Christus als dem einen Herrn. Diesen engen Zusammenhang zwischen dem christlichen Bekenntnis zu Jesus Christus als dem einen Herrn der Kirche und dem Bekenntnis zur Einheit der Kirche hat die christliche Tradition auf der Grundlage des Epheserbriefes dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Kirche als Leib bezeichnet und Christus als sein Haupt geglaubt wird.

                Die heutige Lesung aus der Heiligen Schrift lädt uns ein, das Bild von Haupt und Leib sehr ernst zu nehmen: Auf der einen Seite ist der Leib ohne das Haupt kein Leib mehr, sondern ein Leichnam; und deshalb verkommt die Kirche zu einer Karikatur ihrer selbst, wenn in ihrem Mittelpunkt nicht Christus als ihr Haupt steht. Auf der anderen Seite hat Christus als Haupt seiner Kirche einen sichtbaren Leib und will in seinem Leib gegenwärtig sein, weshalb es nur eine Kirche geben kann. Denn Christus hat nicht viele Leiber, sondern verbindet sich mit dem einen Leib, der die Kirche ist. Oder mit einem anderen Bild ausgedrückt: Wenn die Beziehung Christi zu seiner Kirche so eng und intim ist, dass man von einem Verhältnis von Bräutigam und Braut sprechen darf, dann drängt sich die glaubenslogische Konsequenz auf, dass Christus auf keinen Fall polygam, sondern monogam und treu zu seiner einen Braut ist.

 

Einheit im postmodernen Gegenwind

Die starke Betonung der Einheit der Kirche wird vielen Christen heute als etwas überzogen erscheinen. Doch genau sie ist gemeint und gewollt, wenn evangelische und katholische Christen entschieden haben, das Reformationsgedenken in diesem Jahr als Christusfest zu begehen. Denn damit bekennen wir uns zu unserem gemeinsamen Herrn und damit auch zum einen Haupt seiner Kirche. Wenn wir diese intime Zusammengehörigkeit von Jesus Christus und seiner Kirche, die sein Leib ist, bedenken, dann wird in der heutigen Situation der Christenheit ein ärgerlicher Zwiespalt sichtbar: Auf der einen Seite stimmen alle Christen im Bekenntnis des Glaubens der „einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche“ überein. Auf der anderen Seite aber leben wir Christen, die sich zur einen Kirche bekennen, noch immer in verschiedenen, voneinander getrennten Kirchen, und es stellt sich uns die bedrängende Frage, was die Insistenz auf der Einheit der Kirche in der heutigen Lesung für uns bedeutet.

                Diesbezüglich stelle ich in der heutigen Christenheit keine einheitliche Antwort fest. Auf der einen Seite höre ich den leidenschaftlichem Zwischenruf, dass fünfhundert Jahre Spaltung genug sind, dass wir unsere trennenden Mauern überwinden und endlich die Einheit wieder finden müssen. Auf der anderen Seite hat eine jüngst durchgeführte Meinungsumfrage ergeben, dass die Mehrheit der Befragten die Einheit der Kirchen gar nicht wünscht.

                Dieses Ergebnis dürfte auch damit zusammenhängen, dass die ökumenische Suche nach der Einheit der Kirche im heute selbstverständlich gewordenen pluralistischen und relativistischen Zeitgeist einem starken Gegenwind ausgesetzt ist. Im Unterschied zur christlichen Tradition, in der die Einheit als Sinn und Grund der Wirklichkeit überhaupt betrachtet worden ist, steht heute umgekehrt der Pluralismus im Mittelpunkt der so genannten postmodernen Wirklichkeitserfahrung. Die postmoderne Grundüberzeugung besagt, man könne und dürfe denkerisch nicht hinter die Pluralität der Wirklichkeit zurück gehen, wenn man sich nicht dem Verdacht eines totalitären Denkens aussetzen wolle. Weil Postmoderne das Zulassen von Mehrzahl und das Verdächtigen jedes Singulars als Prinzip bedeutet, erscheint die Suche nach Einheit als vormodern und antiquiert. Diese postmoderne Mentalität ist teilweise auch in der ökumenischen Situation heute wirksam geworden, wenn gerade die Vielzahl und Vielfalt der vorhandenen Kirchen als positive Realität betrachtet wird und jede Suche nach der Einheit der Kirche als verdächtig beurteilt wird.

 

Geistgewirkte Einheit in Vielfalt

In dieser Situation lädt uns die heutige Lesung ein, in liebenswürdiger Hartnäckigkeit die Frage nach der Einheit der Kirche wach zu halten. Überzeugend kann dies freilich nur geschehen, wenn wir auch die Sorge ernst nehmen, die bei jenen Christen anzutreffen ist, die die ökumenische Suche nach der sichtbaren Einheit der Kirche als nicht wünschenswert einschätzen. Hier macht sich die Angst bemerkbar, bei der starken Betonung der Einheit sei überhaupt kein Platz mehr für Vielfalt und Vielheit.

                Diese Befürchtung hat freilich keinen Anhalt im zweiten Teil der heutigen Lesung, in der die Vielfalt der Berufungen und Gnadengaben beschrieben wird, die gerade in ihrer Vielfalt dem Aufbau der einen Kirche dienen. Im christlichen Glauben geht es um eine ganz spezifische Gestalt der Einheit, nämlich eine Einheit in Vielfalt und eine Vielheit in Einheit. Der christliche Glaube ist dabei überzeugt, dass wir eine solche Einheit in der Verschiedenheit nur vom Heiligen Geist als Geschenk empfangen können. Er schenkt sie uns, weil er uns in das innerste Gottesgeheimnis des christlichen Glaubens hinein führt, in das Geheimnis des dreifaltigen Gottes, in dem zwei Dimensionen gleichursprünglich existieren. Im Dreieinen Gott besteht erstens Lebensraum für den Anderen und deshalb für Vielheit und Verschiedenheit. Der Vater ist anders als der Sohn, und der Sohn wiederum ist anders als der Heilige Geist. Es lebt in der göttlichen Dreieinigkeit eine wunderschöne Verschiedenheit der Personen. Es gibt in Gott aber auch eine wunderbare Einheit des göttlichen Wesens. Wiewohl der Vater anders ist als der Sohn und der Sohn wiederum anders als der Heilige Geist, leben die göttlichen Personen als himmlische Trialogpartner doch auf derselben Seinsebene. Denn der Vater ist Gott, der Sohn ist Gott und der Heilige Geist ist Gott. Der Dreieine Gott ist in sich lebendige Gemeinschaft in der ursprünglichen Beziehungseinheit der Liebe.

                Im Licht dieses Gottesgeheimnisses erscheint die Kirche als der vom Dreieinen Gott her vorgegebene Raum des Heils oder, wie das Zweite Vatikanische Konzil hervorgehoben hat, als „das von der Einheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes geeinte Volk“[1]. Im Licht des christlichen Gottesgeheimnisses ist die Kirche berufen, die Gemeinschaft des Dreieinen Gottes in der Welt darzustellen und als Ikone der Trinität zu leben.

 

Einheit bereits auf dem Weg zu ihr leben

In dieser Sinnrichtung, in der Verschiedenheit Einheit zu finden, können wir Christen auch als noch Getrennte bereits jetzt eins sein, wenn wir die Spaltungen entgiften, in ihnen das Fruchtbare annehmen und von der Verschiedenheit das Positive empfangen, und zwar wiederum im Licht des trinitarischen Liebesgeheimnisses, das Papst Benedikt XVI. einmal sehr schön beschrieben hat: „Die wahre Liebe löscht legitime Unterschiede nicht aus, sondern bringt sie miteinander in Einklang in einer höheren Einheit, die nicht von aussen auferlegt wird, sondern die von innen heraus dem Ganzen sozusagen Form gibt.“[2]

                Damit wird der Blick frei auf das Leben jener Einheit der Kirche, die bereits heute möglich ist. Das ökumenische Zusammenleben besteht nicht einfach im Austausch von Ideen und Theorien, sondern viel grundlegender im Austausch von Gaben. Und dieser ist viel mehr als eine allein theoretische Übung, sondern dient dazu, die verschiedenen christlichen Gemeinschaften mit ihren Traditionen in der Tiefe kennen zu lernen, sie zu verstehen und aus ihnen zu lernen. Denn keine christliche Gemeinschaft ist so arm, dass sie nicht einen unverwechselbaren Beitrag zur grösseren Gemeinschaft der Christenheit leisten könnte. Keine christliche Gemeinschaft ist aber auch so reich, dass sie nicht der Bereicherung durch andere bedürfen würde, und zwar in der Überzeugung, das, was der Heilige Geist in anderen christlichen Gemeinschaften gewirkt hat, „als ein Geschenk aufzunehmen, das auch für uns bestimmt ist“[3].

                Solche Einheit in Verschiedenheit können wir bereits heute leben. Wir tun es aber nur glaubwürdig, wenn wir dabei nicht stehen bleiben und uns damit begnügen, friedlich nebeneinander zu leben, sondern wenn wir uns gemeinsam auf den Weg machen, um die verloren gegangene Einheit der Kirche wieder zu finden. Das schulden wir keinem Geringeren als dem Reformator Martin Luther, der die Kirche weder spalten noch eine eigene Kirche gründen, sondern die Kirche erneuern wollte. Nichts bringt dies deutlicher zum Ausdruck als seine aufgebrachte Reaktion, als er hörte, dass seine Anhänger sich als „Lutheraner“ bezeichnet haben: „Zum ersten bitte ich, man wolle meines Namens schweigen, und sich nicht <lutherisch>, sondern <Christ> nennen, Was ist Luther?...Wie käme denn ich armer, stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi mit meinem heillosen Namen benennen sollte? Nicht so, liebe Freunde, lasst uns die Parteinamen tilgen und Christen nennen, dessen Lehre wir haben.“[4] Hinter einem solchen demütigen Bekenntnis dürfen natürlich auch wir Katholiken nicht zurückstehen. Denn die Suche nach der Einheit schulden wir zuerst und zuletzt Jesus Christus, dem Haupt seiner einen Kirche selbst.

                In diesem Geist der demütigen Einsicht bitten wir den gemeinsamen Herrn, dass er uns während des Reformationsgedenkens die Gnade schenke, jene Einheit wieder zu finden, die dem Willen Christi entspricht und die uns in der heutigen Lesung eindringlich vor Augen geführt wird: „Ein Leib und ein Geist, wie euch durch eure Berufung auch eine gemeinsame Hoffnung gegeben ist; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alle und in allem ist.“ Amen.

 

Lesung: Eph 4, 1-16

 

 

 

[1].  Lumen gentium, Nr. 4.

[2].  Benedikt XVI., Predigt in der Feier der Vesper zum Abschluss der Gebetswoche für die Einheit der Christen am 25. Januar 2006.

[3].  Franziskus, Evangelii gaudium, Nr. 246.

[4].  WA 8, 685.