ÖKUMENISCHE BOTSCHAFTER VON UMKEHR UND VERSÖHNUNG SEIN

Ansprache in der Ökumenischen Vesper in Pannonhalma in Ungarn am 8. Juni 2021

 

Kurt Cardinal Koch

 

„Es gibt keinen echten Ökumenismus ohne innere Bekehrung. Denn aus dem Neuwerden des Geistes, aus der Selbstverleugnung und aus dem freien Strömen der Liebe erwächst und reift das Verlangen nach der Einheit.“[1] Mit dieser zentralen Aussage im Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio“ am Beginn des zweiten Kapitels über seine „praktische Verwirklichung“ werden die Bekehrung als das Lebenselixier einer wahrhaften Ökumene und die Ökumenische Bewegung als eine Umkehrbewegung identifiziert. Denn wer von Umkehr redet, geht davon aus, dass man vom Weg abgekommen ist oder sogar einen falschen Weg eingeschlagen hat, so dass man umkehren und auf den rechten Weg zurück finden muss. Und wer von Umkehr redet, hat ein klares Ziel vor Augen, auf das hin er umkehren soll, und dieses Ziel heisst Versöhnung.

 

Versöhnung als Geschenk Gottes

Umkehr und Versöhnung sind der Weg der Ökumene, und zwar schlicht deshalb, weil sie der Weg im christlichen Leben überhaupt sind. Denn sie sind das erste Ostergeschenk des auferstandenen Herrn und zugleich sein Auftrag an die Kirche im Werden, wie der Evangelist Johannes uns berichtet: Am Abend von Ostern kam der auferstandene Christus in die Mitte seiner Jünger, die aus Angst hinter verschlossenen Türen versammelt waren, er sprach ihnen seinen Friedensgruss zu, hauchte sie an und sprach zu ihnen: „Empfangt den Heiligen Geist. Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert“ (Joh 20, 22-23). Es ist sodann der Apostel Paulus, der diese befreiende Botschaft von der Versöhnung in seinem zweiten Brief an die Gemeinde in Korinth in eindrücklicher Weise entfaltet hat. Aus ihm möchte ich für unsere Besinnung auf unseren ökumenischen Auftrag vor allem drei Perspektiven hervorheben.

Beginnen wir dabei mit dem Elementarsten und Tiefsten: „Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete“ (2 Kor 5, 19). Diese tiefe Weisheit des Paulus haben die Reformatoren, allen voran Martin Luther, neu in Erinnerung gerufen und dabei betont, dass nicht wir Menschen zu Gott gehen und ihm eine ausgleichende Gabe bringen müssen, um ihn zu versöhnen. Denn Gott wartet nicht, bis wir Menschen kommen und uns versöhnen. Aller menschlichen und allzu menschlichen Erfahrung nach müsste Gott da lange warten. Es ist vielmehr Gott, der uns Menschen entgegen geht und sie versöhnt – wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn der Vater, der bei seinem Sohn auf keine Vorleistungen oder auf Genugtuung wartet, sondern seinem Sohn entgegen läuft, um ihm seine Versöhnung anzubieten. Versöhnung ist die unableitbare Initiative, die Gott ergreift, und ein Geschenkt, das er allen Menschen und dem ganzen Kosmos macht.

In dieser Botschaft besteht das Unerhörte des christlichen Glaubens und gleichsam die Wende, die das Christentum in die Religionsgeschichte hinein getragen und die die Reformation im 16. Jahrhundert neu zum Leuchten gebracht hat. Das Unerhörte dieser Botschaft dürfen wir uns auch in der heutigen ökumenischen Situation gesagt sein lassen, wenn wir in die Geschichte zurückblicken und in ihr zwischen uns Christen auch viel Unversöhntem und sogar Kriegerischem begegnen und wir zur Versöhnung gerufen sind. Dabei ist es hilfreich, im Glauben darum zu wissen, dass wir Christen uns nur wirklich versöhnen können, wenn wir uns zunächst die Versöhnung zusprechen lassen, die Gott uns schenkt.

 

Hoher Preis der Versöhnung

Damit öffnet sich der Blick auf die zweite Perspektive, die uns Paulus vor Augen führt: Gott „hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden“ (2 Kor 5, 21). Das Versöhnungshandeln Gottes in Jesus Christus ist keine billige Angelegenheit, sondern harte Arbeit, oder mit dem christlichen Märtyrer Dietrich Bonhoeffer gesprochen, keine billige, sondern teure Gnade. Gottes Versöhnung ist nichts weniger als konsequente Feindesliebe, wie sie in letzter Tiefe am Kreuz Jesu offenbar geworden ist. Denn gemäss unserer menschlichen Logik hätte die Grausamkeit des Kreuzestodes Jesu Rache bis zum Letzten bedeuten müssen, damit die Welt wieder in Ordnung wäre. Gott aber hat am Kreuz Jesu aller Macht und Vergeltung ein klares Ende gesetzt. Die einzige „Rache“, die Gott kennt, ist sein kompromissloses Nein zur Vergeltung und seine Versöhnung bis zum Ende. Das Kreuz Jesu ist Gottes Liebe in ihrer radikalsten Form, gleichsam sein grosser Versöhnungstag, der universale Yom Kippur.

Die Reformatoren haben mit Recht die Botschaft vom Kreuz Jesu in den Mittelpunkt ihrer Verkündigung gestellt. Sie laden uns damit ein, der Ernsthaftigkeit der Versöhnung Gottes in Jesus Christus ansichtig zu werden. Dazu ist es notwendig zu bedenken, dass Jesus als Lamm Gott mit der Welt versöhnt hat. Er begegnet uns damit in einer Weise, die wir Menschen niemals erwartet hätten. Wir würden ihn nämlich nicht als Lamm, sondern als Löwen erwarten, der mit seiner Kraft die Welt und ihre Strukturen aus den Angeln hebt und eine neue Welt schafft. Es ist kein Zufall, dass sich die Herrscher unserer Welt immer wieder mit dem Bild des Löwen dargestellt haben, um ihre Macht und Herrschaft demonstrativ zu feiern. Der christliche Glaube aber verkündet uns, dass die Versöhnung nicht durch die grossen und mächtigen Tiere in unsere Welt kommt, dass Jesus vielmehr als Lamm zu uns Menschen kommt und damit in der Kraft seiner wehrlosen Liebe, die freilich die konkrete Wirkweise seiner Macht ist.

Jesus Christus als Lamm vor Augen wird uns auch für unseren Versöhnungsauftrag zwischen uns Christen bewusst, dass Versöhnung nicht in der potenten Attitüde des Löwen, sondern in der feinen Demutsgeste des Lammes möglich ist und dass Versöhnung nur dort geschieht, wo jemand – wie Gott selbst - den ersten Schritt wagt und deshalb den anderen einlädt, sich auf denselben Weg zu begeben.

 

Botschafter der Versöhnung sein

Wenn wir Christen von Gott das Geschenk der Versöhnung empfangen und uns von Gott in Jesus Christus versöhnen lassen, dann sind auch wir berufen und verpflichtet, Gottes Versöhnung zu verkünden, für die Versöhnung zu arbeiten und als Botschafter der Versöhnung zu leben und zu wirken. Dies ist die dritte Perspektive, gleichsam die glaubenslogische Konsequenz aus dem Versöhnungshandeln Gottes: „Wir sind also Gesandte an Christi statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt: Wir bitten an Christi statt: lasst euch mit Gott versöhnen“ (2 Kor 5, 20).

Für die Versöhnung unter den Menschen glaubwürdig wirken können wir Christen freilich nur, wenn wir uns selbst untereinander versöhnen und jene Einheit wiederfinden, die durch die Kirchenspaltungen verwundet und verloren gegangen ist. Ökumene als Bemühen um die Wiederherstellung der Einheit der Christen ist wesentlich Versöhnungsarbeit, und zwar auf dem Weg „vom Konflikt zur Gemeinschaft“. Solche Versöhnung ist notwendig im Blick auf die grosse Spaltung in der westlichen Christenheit im 16. Jahrhundert. Die Reformatoren, allen voran Martin Luther, wollten die Kirche nicht spalten, sondern sie im Geist des christlichen Evangeliums erneuern. Die Reformation bedeutet deshalb in erster Linie einen Vorgang der Erneuerung der Kirche durch die Wiederentdeckung des Evangeliums von der Rechtfertigung des Menschen durch die unverdienbare Gnade Gottes. Die damit intendierte Erneuerung der ganzen Kirche ist damals aber nicht gelungen. Es ist vielmehr zur Kirchenspaltung gekommen, und im Anschluss daran haben im 16. und 17. Jahrhundert grausame Glaubenskriege stattgefunden, in denen sich Katholiken und Protestanten bis aufs Blut bekämpft haben, vor allem der Dreissigjährige Krieg, der das damalige Europa in ein rotes Meer von Blut verwandelt hat.

Die Reformation enthält deshalb zwei Seiten: Auf der einen Seite sind wir dankbar für die Gaben, die uns durch die Reformation geschenkt worden sind. Auf der anderen Seite haben wir angesichts der traurigen Geschichte, in der der eine Leib Christi verwundet worden ist und wir Christen im Namen des Glaubens Gewalt gegeneinander ausgeübt haben, allen Grund, Schuld zu bekennen, Busse zu tun und uns im Licht der Versöhnungshandelns Gottes zu versöhnen. Dazu müssen wir jene Reinigung des geschichtlichen Gedächtnisses vollziehen, die Papst Franziskus im Blick auf das Reformationsgedenken angemahnt hat: „Wir können Geschehenes nicht auslöschen, aber wir wollen nicht zulassen, dass die Last vergangener Schuld weiter unsere Beziehungen vergiftet. Die Barmherzigkeit Gottes wird unsere Beziehungen erneuern.“[2]

Barmherzigkeit und Versöhnung müssen die Leitperspektiven des ökumenischen Weges sein. Dies wird uns umso mehr gelingen, desto entschiedener wir uns an jenem Gott orientieren, der uns in der heutigen Lesung vor Augen geführt ist. Diesen Gott der grenzenlosen Versöhnung können wir Christen in der heutigen Welt nur gemeinsam und als Versöhnte glaubwürdig verkünden. Und diesen Gott in ökumenischer Gemeinschaft in unserer heute weithin säkularisierten Gesellschaft, in der Gott oft genug auf die Ersatzbank gesetzt wird, wieder in die Mitte zu rücken, ist der wichtigste Auftrag, dem wir Christen heute in ökumenischer Gemeinschaft verpflichtet sein müssen. Dann wird die Welt auch heute erkennen können, dass Versöhnung die kostbare Perle des christlichen Glaubens und ein grossartiges Angebot für das Leben und Zusammenleben der Menschen ist.

Mögen die ökumenischen Bemühungen hier in Pannonhalma und in ganz Ungarn stets von dieser Glaubenserkenntnis und diesem Glaubensbekenntnis geleitet sein: Versöhnung – Gott sei Dank! Denn Versöhnung ist in erster Linie nicht eine Forderung an uns Menschen, die uns schnell überfordert, sondern Konsequenz des Glaubens, der befreit, und damit unsere Antwort des Glaubens auf jene Versöhnung, die Gott uns schenkt – aus Gnade und damit gratis. Amen.

 

Lesung: 2 Kor 5, 17-21


 

[1]  Unitatis redintegratio, Nr. 7.

[2]  Franziskus, Predigt in der Vesper am Hochfest der Bekehrung des Apostels Paulus in der Basilika St. Paul vor den Mauern am 25. Januar 2016.