2018 PLENARIA
EINFÜHRUNG VON KARDINAL KOCH

 

PENTECOSTALISCHE, CHARISMATISCHE UND EVANGELIKALE BEWEGUNGEN: KONSEQUENZEN FÜR DAS VERSTÄNDNIS DER EINHEIT [1]

 

Kurt Kardinal Koch

 

1. Leidenschaftliche Suche nach der Einheit

“Die Einheit aller Christen wiederherstellen zu helfen, ist eine der Hauptaufgaben des Heiligen Ökumenischen II. Vatikanischen Konzils.“[2] Mit diesem allerersten Satz bringt das Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio“ nicht nur zum Ausdruck, worum es in der Ökumene geht und gehen muss, sondern es macht auch auf eines der Hauptanliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils überhaupt aufmerksam, nämlich auf die leidenschaftliche Suche nach der Wiedergewinnung der verlorenen Einheit unter den Christen. Diese Grundüberzeugung wollen wir uns in einem ersten Gedankengang vergegenwärtigen.

Die genannte Sinnrichtung ist deutlich zu greifen bereits beim heiligen Papst Johannes XXIII. und seiner Vision, die er für das Zweite Vatikanische Konzil gehabt hat und die ihm bezeichnenderweise während der Gebetswoche für die Einheit der Christen zuteil geworden ist. Denn die beiden Hauptanliegen, die ihn bewogen haben, ein Konzil einzuberufen, sind bei ihm sehr eng miteinander verbunden gewesen, nämlich die Erneuerung der Katholischen Kirche und die Wiederherstellung der Einheit der Christen. Papst Johannes XXIII. ist überzeugt gewesen, dass sich die Katholische Kirche nur erneuern lässt, wenn dem ökumenischen Anliegen ein prioritärer Stellenwert gegeben wird. Diesen hat er auch und vor allem dadurch zum Tragen gebracht, dass er bereits zwei Jahre vor der Eröffnung des Konzils das Sekretariat für die Einheit der Christen gegründet und mit dessen Leitung den deutschen Jesuitenkardinal Augustin Bea beauftragt hat, dem man später den Ehrentitel gegeben hat: „Cardinale dell´unità“ und „Cardinale dell´ecumenismo e del dialogo“ [3] und dessen 50. Todestag sich am kommenden 16. November jähren wird.

Vom engen Zusammenhang der beiden Hauptanliegen ist auch der grosse Konzilspapst, der selige und bald heilige Paul VI. überzeugt gewesen. Das ökumenische Anliegen ist für ihn ein wichtiges Leitmotiv auch und gerade bei der konziliaren Erneuerung der Katholischen Kirche und ihres Selbstverständnisses gewesen, und zwar so sehr, dass man von einer eigentlichen Wechselwirkung zwischen der ökumenischen Öffnung der Katholischen Kirche und der Erneuerung ihrer Ekklesiologie sprechen muss.[4] In dieser Sinnrichtung hat Papst Paul VI. bereits zu Beginn der zweiten Sitzungsperiode des Konzils in seiner grundsätzlichen Eröffnungsrede, der der damalige Konzilsperitus Joseph Ratzinger einen „wahrhaft ökumenischen Charakter“ attestiert hat[5], hervorgehoben, die ökumenische Annäherung zwischen den getrennten Christen und Kirchen sei eines der zentralen Ziele, gleichsam das geistige Drama gewesen, um dessentwillen das Zweite Vatikanische Konzil einberufen worden sei[6].

In dieser offenen Sinnrichtung haben auch die Päpste nach dem Konzil, der heilige Papst Johannes Paul II.[7] und Papst Benedikt XVI.[8], das ökumenische Anliegen weitergetragen, gefördert und vertieft. Und auf seine Weise führt Papst Franziskus den Weg des ökumenischen Dialogs fort[9]. Sein leidenschaftliches Engagement für die Wiederherstellung der Einheit der Christen ist in den vergangenen zwei Jahren seit der letzten Plenaria unseres Rates vor allem bei zwei herausragenden Ereignissen deutlich geworden.

Das erste ist die Teilnahme von Papst Franziskus am lutherisch-katholischen Reformationsgedenken in der lutherischen Kathedrale von Lund am 31. Oktober 2016 gewesen. Damals hat er zusammen mit Bischof Munib Jounan, dem Präsidenten des Lutherischen Weltbundes, in ihrer gemeinsamen Erklärung offenherzig bekannt: „Während wir eine tiefe Dankbarkeit empfinden für die geistlichen und theologischen Gaben, die wir durch die Reformation empfangen haben, bekennen und beklagen wir vor Christus zugleich, dass Lutheraner und Katholiken die sichtbare Einheit der Kirche verwundet haben.“[10] Hinter diesem Ausdruck der Dankbarkeit und des Schmerzes steht die gemeinsame Überzeugung, dass Martin Luther selbst keineswegs den Bruch mit der Katholischen Kirche und die Gründung einer neuen Kirche gewollt, sondern vielmehr die Erneuerung der ganzen Christenheit im Geist des Evangeliums intendiert hat. Ihm ist es um eine durchgehende Reform der Kirche und nicht um eine Reformation im Sinne der mit ihr schliesslich zerbrochenen Einheit der Kirche gegangen, wie der evangelische Ökumeniker Wolfhart Pannenberg immer wieder hervorgehoben hat: „Luther wollte eine Reform der Gesamtchristenheit; sein Ziel war alles andere als eine lutherische Sonderkirche.“[11] Und aus der Tatsache, dass Luthers Reformanliegen in der damaligen Zeit nicht seiner Intention gemäss verwirklicht werden konnte, dass vielmehr besondere evangelische Kirchen entstanden sind, hat Pannenberg gefolgert, dass man in dieser Entwicklung nicht das „Gelingen“ der Reformation, sondern dass man ihr wirkliches Gelingen erst in der Überwindung der Spaltungen und in der Wiederherstellung der Einheit der im Geist des Evangeliums erneuerten Kirche erblicken könne[12]. Insofern geht es in der ökumenischen Suche nach der Einheit der Christen auch um die Vollendung der Reformation selbst, für die sich Lutheraner und Katholiken gleichermassen engagieren müssen. Sich für die Wiederherstellung der Einheit zwischen Lutheranern und Katholiken in neuer Weise zu verpflichten, ist denn auch der tiefere Sinn des gemeinsamen Reformationsgedenkens gewesen.

Das zweite bedeutende Ereignis, bei dem Papst Franziskus für die Wiederherstellung der Einheit unter den Christen intensiv geworben hat, ist sein Besuch beim Ökumenischen Weltrat der Kirchen anlässlich seines 70. Gründungstages am 21. Juni 2018 in Genf gewesen. Bei dieser Gelegenheit hat er einen starken Akzent auf die Motive des Wandelns und des Gehens gelegt. In der Überzeugung, dass die Einheit im Gehen wächst und das gemeinsam auf dem Weg sein bereits bedeutet, die Einheit zu leben, ist es Papst Franziskus ein besonderes Anliegen, dass die verschiedenen Christen und kirchlichen Gemeinschaften gemeinsam auf dem Weg zur Einheit hin unterwegs sind und dass sie dabei miteinander gehen, miteinander beten und miteinander arbeiten: „Das ist unser Königsweg heute.“ Mit der gleichen Leidenschaft hat Papst Franziskus aber auch betont, dass er als „Pilger auf der Suche nach Einheit und Frieden“ nach Genf gekommen ist: „Diese Strasse hat ein festes Ziel: die Einheit. Die entgegengesetzte Strasse, jene der Spaltung, führt zu Kriegen und Zerstörungen. Es genügt, auf die Geschichte zu schauen. Der Herr bittet uns, beständig den Weg der Gemeinschaft einzuschlagen, der zum Frieden führt. Die <Spaltung widerspricht aber ganz offenbar dem Willen Christi, sie ist ein Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums vor allen Geschöpfen> (Unitatis redintegratio). Der Herr bittet uns um Einheit; die Welt, zerrissen von zu vielen Spaltungen, die vor allem die Schwächsten treffen, ruft nach Einheit.“[13]

Mit diesem leidenschaftlichen Plädoyer für die Einheit hat Papst Franziskus zugleich auf den tiefsten und innersten Grund der Suche nach Einheit hingewiesen, nämlich auf den Willen des Herrn, wie er in der neutestamentlichen Botschaft bezeugt ist. Die deutlichste Artikulation dieses Einheitswillens findet sich zweifellos im Brief an die Epheser mit seinem geistlichen Appell an alle Getauften, die Einheit in der Kirche und die Einheit der Kirche zu wahren: „Ein Leib und ein Geist, wie euch durch eure Berufung auch eine gemeinsame Hoffnung gegeben ist; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alle und in allem ist“ (Eph 4, 4-6). Wie ernst es Paulus mit diesem geistlichen Appell zur Einheit ist, kann bereits an der Tatsache abgelesen werden, dass er aus dem Gefängnis schreibt, in dem er sich „um des Herrn willen“ (4, 1) aufhält. Denn in einer solchen bedrängenden Lebenssituation gibt man sich nicht mit Nebensächlichkeiten und schon gar nicht mit Allotria ab, sondern bringt man zum Ausdruck, was einem wirklich auf der Seele brennt. In diesem Geist nennt Paulus die „tragenden Pfeiler der Einheit“[14] und stellt sie der Gemeinde als die stärksten Motive für die Einheit vor Augen, nämlich die Einheit mit dem einen Herrn Jesus Christus, die Einheit im gemeinsamen Glauben, die gemeinsame Anerkennung der Taufe, das Bekenntnis zum einen Leib Christi und das Bekenntnis zum Heiligen Geist.

 

2. Suche nach Einheit angesichts der Pluralität der Einheitsvorstellungen

Mit dieser kurzen Erinnerung an das ökumenische Wirken der Päpste und an das biblische Fundament dieses Wirkens dürfte deutlich geworden sein, dass die Einheit eine Grundkategorie des christlichen Glaubens und kirchlichen Lebens ist und bleiben muss und deshalb so elementar zum Kirchesein der Kirche gehört, dass der christliche Glaube ohne Einheit und ohne Suche nach Einheit dort, wo sie bedroht oder gar verloren ist, sich selbst aufgeben würde. Die Suche nach der Einheit in liebenswürdiger Hartnäckigkeit wach zu halten, ist eine besondere Herausforderung angesichts der heutigen ökumenischen Situation, in der man eine doppelte Feststellung treffen muss: Auf der einen Seite konnten in den bisherigen Phasen der Ökumenischen Bewegung erfreuliche und weitgehende Konsense über viele bisher strittige Einzelfragen des Glaubensverständnisses und der theologischen Struktur der Kirche erzielt werden. Auf der anderen Seite bündeln sich aber die meisten der noch bestehenden Differenzpunkte im nach wie vor unterschiedlich geprägten Verständnis der ökumenischen Einheit der Kirche selbst. In diesem doppelten Sachverhalt muss man die eigentliche Paradoxie der Ökumenischen Bewegung heute wahrnehmen, die man mit Bischof Paul-Werner Scheele genauer in der Diagnose festmachen kann: „Man ist sich einig über das Dass der Einheit und uneinig über das Was.“[15]

Die Pluralisierung der Einheitsvorstellungen hat einen wesentlichen Grund auch im Auftreten von neuen ökumenischen Dialogpartnern. Dass das Ziel der Ökumenischen Bewegung im Laufe der Geschichte undeutlicher, als es zu Beginn gewesen ist, geworden ist, lässt sich mit dem evangelischen Kirchenhistoriker Christoph Markschies auch als – freilich unbeabsichtigte – Konsequenz des Erfolgs der Ökumenischen Bewegung verstehen: „Es engagieren sich nämlich inzwischen so viele Menschen in der ökumenischen Bewegung, dass sich die schon anfänglich unterschiedlichen Ziele einfach aufgrund der Menge der an der Ökumene interessierten Christenmenschen weiter pluralisiert haben.“[16]

Diese Beobachtung findet eine Bestätigung auch in der Tatsache, dass die Begegnungen und Dialoge in der weltweiten Ökumene nicht mehr nur zwischen den historischen Grosskirchen vor allem des Westens stattfinden, sondern auch mit vielen neuen christlichen Gemeinschaften und Bewegungen vorwiegend im evangelischen Bereich. Diese Feststellung trifft in besonderer Weise auf die Länder der südlichen Hemisphäre zu. Da die historischen Kirchenspaltungen zum allergrössten Teil in Europa stattgefunden haben, sind sie in der südlichen Hemisphäre vor allem als ein europäisches und damit zu einem gewissen Teil auch als ein koloniales Erbe präsent. In dieser geschichtlichen Tatsache dürfte es auch begründet sein, dass im Süden der Welt die ökumenischen Dialoge mit den historischen Grosskirchen nicht die primäre Herausforderung darstellen dürften. Die entscheidende ökumenische Herausforderung ist vielmehr das rapide und zahlenmässig starke Anwachsen von autochthonen Freikirchen, evangelikalen und charismatischen Gruppierungen und pentekostalen  Bewegungen in der südlichen Hemisphäre, in der Zwischenzeit freilich auch in anderen Kontinenten.[17] Vor allem der Pentekostalismus bildet mit seinen ungefähr 500 Millionen Mitgliedern „nach der römisch-katholischen Kirche zusammengenommen die zweitgrösste Konfessionsfamilie“[18]. Es handelt sich dabei um ein derart expandierendes Phänomen, dass man von einer derzeitigen „Pentekostalisierung des Christentums“[19] reden muss oder geneigt sein kann, in ihm eine neue, genauer „vierte Form des Christseins“ wahrzunehmen[20], nämlich neben den Orthodoxen und Orientalisch-Orthodoxen Kirchen, der Katholischen Kirche und den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften.

Das schnelle Wachstum der so genannten Pfingstkirchen bringt es an den Tag, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten die weltweite Geographie des Christentums tiefgreifend verändert hat und die ökumenische Situation unübersichtlicher und keineswegs leichter geworden ist. Darin besteht eine der elementaren Herausforderungen in der ökumenischen Situation heute, auf die bereits Papst Benedikt XVI. wohl nicht zufälligerweise bei seiner Begegnung mit Vertretern des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland im Augustinerkloster Erfurt im September 2011 mit diesen sensiblen Worten hingewiesen hat: „Vor einer neuen Form von Christentum, die mit einer ungeheuren und in ihren Formen  manchmal beängstigenden missionarischen Dynamik sich ausbreitet, stehen die klassischen Konfessionskirchen oft ratlos da. Es ist ein Christentum mit geringer institutioneller Dichte, mit wenig rationalem und mit noch weniger dogmatischem Gepäck, auch mit geringer Stabilität. Dieses weltweite Phänomen – von dem ich von Bischöfen aus aller Welt immer wieder höre – stellt uns alle vor die Frage: Was hat diese neue Form von Christentum uns zu sagen, positiv und negativ? Auf jeden Fall stellt es uns neu vor die Frage, was das bleibend Gültige ist und was anders werden kann oder muss – vor die Frage unserer gläubigen  Grundentscheidung.“[21]

 

3. Ökumenische Herausforderungen der neuen Gemeinschaften

Mit diesen Feststellungen und Fragen hat Papst Benedikt XVI. die Herausforderung der Ökumene durch das weltweite Phänomen von evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Bewegungen beim Namen genannt und eine eigentliche Traktandenliste für die ökumenische Begegnung formuliert. Dabei ist bereits deutlich geworden, dass in den ökumenischen Dialogen mit diesen Bewegungen andere Traktanden als in den Dialogen mit den historischen Grosskirchen im Vordergrund stehen. Das Haupttraktandum, das wir in der Plenaria unseres Päpstlichen Rates in diesem Jahr behandeln wollen, ist die Frage, von welchem Konzept von Einheit sich diese neuen christlichen Bewegungen leiten lassen und welche Konsequenzen sich daraus ergeben für die Bestimmung des Ziels der ökumenischen Dialoge mit diesen christlichen Bewegungen. Denn nachdem wir in den vergangenen Plenaria immer wieder nach der Einheit als Ziel der Ökumenischen Bewegung gefragt und dabei vor allem die historischen Grosskirchen im Blick gehabt haben, halte ich die Zeit für reif, die Frage nach der Einheit im Blick auf die neueren evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Bewegungen zu stellen. Dabei legt es sich nahe, unsere Beschäftigung mit dieser Thematik im Dreischritt von Sehen – Urteilen – Handeln anzugehen. Dazu haben wir drei Experten eingeladen, die uns in die Thematik einführen werden: Professor Teresa Rossi wird uns eine historische Übersicht über die pentekostalen, charismatischen und evangelikalen Gemeinschaften und ihre Auswirkungen in der Ökumenischen Bewegung in verschiedenen Kontexten geben. Anschliessend wird Pater Jorge Scampini eine theologische Bewertung (appraisal) der Ekklesiologie der pentekostalen, charismatischen und evangelikalen Bewegungen und ihrer Herausforderung für die katholische Vision der christlichen Einheit bieten. Und in einem dritten Schritt wird Monsignore Usma-Gomez einen ökumenisch-pastoralen Ansatz für eine katholische Antwort auf die pentekostalen, charismatischen und evangelikalen Bewegungen aufzeigen.

a) Sehen: grosse Pluralität von neuen Bewegungen

Es kann nicht die Aufgabe der Prolusio sein, diese wertvollen Informationen, die uns gegeben werden, voraus nehmen zu wollen. Ich begnüge mich vielmehr mit einigen hinführenden Hinweisen, die bei unserer Beschäftigung mit diesen relativ neuen Phänomenen zu berücksichtigen sind. Was zunächst das Sehen betrifft, ist davon auszugehen, dass unter der üblich gewordenen Bezeichnung „Pfingstkirchen“ oder „pentekostale Bewegungen“ sehr verschiedenartige Phänomene zusammengefasst sind, so dass wir einer Unzahl von kirchlichen Gemeinschaften begegnen. Diese Pluralität hängt auch damit zusammen, dass es sich bei den so genannten Pfingstkirchen eher um Bewegungen denn um kirchliche Institutionalisierungen handelt und dass in der Folge bei diesen Bewegungen ein völlig neuer Typ des Kircheseins an den Tag tritt, bei dem die charismatische Dimension des Glaubens und seines Lebens in der Gemeinschaft eine bedeutsame Rolle spielt. Albert-Peter Rethmann hat diesen neuen Typ dahingehend charakterisiert, dass mit den neueren Bewegungen ein Kirchentyp entstanden ist, „der auf individueller Entscheidung basiert und der sich mehr als Bewegung denn als Organisation und Hierarchie versteht, beziehungsweise – christlich gesprochen – als dezidiert brüderliche oder geschwisterliche Gemeinde“[22]. Im Vergleich mit der Kirchenstruktur der historisch gewachsenen Grosskirchen spricht Rethmann sogar von „zwei kontrastierenden Kirchenmodellen“, die sich gegenseitig befragen sollten und zweifellos Thema des ökumenischen Dialogs sein müssen. In diesem Dialog werden die historischen Grosskirchen die in ihrer Geschichte und Gegenwart starke Verkirchlichung des Glaubens und des christlichen Lebens von den Erfahrungen der neueren Bewegungen her in Frage stellen lassen müssen, ohne die biblische Grundüberzeugung zu vergessen, dass man die Christusbeziehung und die Kirchenbeziehung nicht auseinanderdividieren darf, da das Sein in Christus und das Sein im Leib Christi letztlich eine untrennbare Einheit bilden. In diesem grösseren Zusammenhang wird erst recht deutlich, dass sich Ekklesiologie und die Frage nach der ökumenischen Einheit wechselseitig bedingen.

Der neue Kirchentyp dürfte auch damit zusammenhängen, dass die evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Bewegungen ihrem eigenen Selbstverständnis nach keine direkten Wurzeln in der Reformation im 16. Jahrhundert aufweisen, sondern sich als Frucht einer neuen pfingstlichen Ausgiessung des Heiligen Geistes wissen. Dementsprechend spielen bei ihnen der Glaube an das Wirken des Heiligen Geistes und seine Erfahrung im konkreten Leben des Alltags und die diesen Glauben und diese Erfahrung besiegelnde so genannte Geisttaufe eine bedeutende Rolle. Sie findet dabei nicht selten Ausdruck in einem ganzheitlichen Verständnis von Heil und Heilung und aus ihm folgenden Heilungsriten einerseits und manchmal recht ekstatischen Gottesdienstformen andererseits. Aus diesem Grund hat bereits Papst Johannes Paul II. moniert, dass man diese neueren Phänomene nicht einfach negativ betrachten darf, weil sich in ihnen, bei aller Problematik von einzelnen Erscheinungen, ein grosser Hunger und Durst nach geistlichen Erfahrungen anmeldet, die die Grosskirchen ernst nehmen müssen. Denn die elementare Fokussierung auf das Wirken des Heiligen Geistes bildet zweifellos eine starke Anfrage an das Schattendasein, das der Glaube an den Heiligen Geist teilweise noch immer im durchschnittlichen Leben der historischen Grosskirchen fristet. Sie müssen die noch immer wirksame Geistvergessenheit überwinden, ohne freilich in der Pneumatologie einen Gegensatz zur Christologie zu erblicken, da der Heilige Geist gerade daran zu erkennen ist, dass er immer zu Christus hin- und keineswegs von ihm wegführt. Ebenso müssen die historischen Grosskirchen die in der Geisterfahrung begründete Freiheit des einzelnen Christen ernst nehmen, ohne die biblische Grundüberzeugung zu verraten, dass die Freiheit des Geistes nicht neben der kirchlichen Communio wirkt, sondern in ihr und durch sie.

b) Urteilen: Unterscheidung der Geister

Damit haben wir das Sehen bereits auf das Urteilen hin überschritten. Im Urteilen stellt sich freilich eine noch grundsätzlichere Frage. Denn im grossen Spektrum von evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Bewegungen finden sich auch Erscheinungsformen des Religiösen, die man traditionellerweise als „Sekten“ bezeichnet hat. In der jüngeren Vergangenheit haben sich allerdings gegenüber dieser Terminologie mit Recht eine grosse Vorsicht und Zurückhaltung eingestellt. Deshalb ist es üblich geworden, auf den Terminus „Sekte“ prinzipiell zu verzichten und stattdessen generell und auch neutraler von „neuen religiösen Bewegungen“ zu sprechen. Auf der anderen Seite kann sich die ökumenische Auseinandersetzung mit der grossen Vielfalt von evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Bewegungen nicht von einer elementaren Unterscheidung der Geister dispensieren, und zwar dahingehend, welche Phänomene als neue Grundgestalten des Christlichen angesprochen werden können und welche Phänomene weiterhin als „Sekten“ beurteilt werden müssen. Denn Geschichte und Gegenwart zeigen, dass man damit rechnen muss, dass es nicht nur positive und hilfreiche Formen des Religiösen gibt, sondern auch kranke und krank machende Gestalten der Religion.

Eine solche Unterscheidung der Geister drängt sich erst recht in ökumenischer Hinsicht auf. Dabei besteht das entscheidende Kriterium darin, ob man mit Gruppierungen und Bewegungen überhaupt einen ökumenischen Dialog führen kann oder nicht. Mit Gemeinschaften, die eine ausgesprochen antikatholische Haltung einnehmen und antiökumenische Positionen vertreten und deshalb eine proselytische Praxis an den Tag legen, erweist sich ein Dialog nur schwer oder überhaupt nicht als möglich. Denn man kann niemandem einen Dialog aufzwingen, ohne den Dialog selbst zu dementieren. Die Erfahrung unseres Päpstlichen Rates zeigt aber, dass es durchaus möglich geworden ist, mit evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Gruppierungen und Bewegungen in einen respektvollen und vertrauensvollen ökumenischen Dialog einzutreten. Eine Unterscheidung der Geister ist von daher auch dahingehend notwendig, dass ein ökumenischer Dialog nur mit solchen Gruppierungen und Bewegungen sinnvoll ist, mit denen man sich über ein gemeinsames christliches Glaubensfundament verständigen kann, während andere Gruppierungen, die such durch einen starken religiösen Synkretismus auszeichnen, eher eine pastorale denn eine ökumenische Herausforderung darstellen.

c) Handeln: Evangelisierung in glaubwürdiger Ökumene

Was den dritten Schritt des Handelns betrifft, legt es sich nahe, der Wegweisung des Zweiten Vatikanischen Konzils zu folgen, der gemäss die Essenz des ökumenischen Dialogs nicht einfach in einem Austausch von Ideen und Theorien besteht, sondern viel elementarer in einem Austausch von Gaben[23], in dem sich die ökumenischen Partner gegenseitig bereichern, freilich auch gegenseitig befragen, insofern im ökumenischen Dialog die Stärken des einen Partners zugleich die Schwächen des anderen Partners und umgekehrt sichtbar machen. Dies impliziert, dass die ökumenische Herausforderung in einem ersten Schritt in einer selbstkritischen Weise angenommen wird, indem wir uns jenen Fragen aussetzen, die in der Begegnung mit evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Gruppierungen und Bewegungen auf uns zukommen und die Kardinal Walter Kasper bereits während einer früheren Plenaria formuliert hat: „Was macht diese Bewegung so anziehend? Warum verlassen so viele Gläubige unsere Kirche? Was versprechen sie sich von den Pfingstgemeinden? Was fehlt ihnen bei uns? Was können und was müssen wir pastoral ändern, um dem geistlichen Durst und dem Hunger nach konkreter Erfahrung wie den konkreten sozialen Notlagen gerecht zu werden?“[24]

Diesen Fragen wollen wir kurz nachgehen, indem wir sie an einem wichtigen Themenkomplex exemplifizieren. Eine der grossen Stärken der evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Bewegungen liegt zweifellos in einem klar entwickelten evangelisatorischen Bewusstsein, von dem die historischen Grosskirchen nur lernen können. In der umgekehrten Sinnrichtung dürfen freilich die Grosskirchen nicht der Versuchung erliegen, die teilweise problematischen Evangelisierungsmethoden dieser Bewegungen übernehmen zu wollen. Deren elementarste dürfte darin bestehen, das christliche Evangelium im Sinne einer äusserst problematischen „Teologia de la prosperidad“ zu einer Botschaft von diesseitiger und vor allem wirtschaftlicher Glücksverheissung verkommen zu lassen, mit der die christliche Option für die Armen und Schwachen in ihr Gegenteil verkehrt wird.

Im stark entwickelten evangelisatorischen Bewusstsein dürfte es auch begründet liegen, dass es den genannten Bewegungen offensichtlich leicht fällt, Mitglieder der etablierten Kirchen anzusprechen und sie abzuwerben. Demgegenüber müssen sich die Grosskirchen dafür stark machen, dass es sich bei der christlichen Evangelisierung um einen durch und durch freiheitlichen Vorgang handelt, der sich an die Freiheit anderer Menschen adressiert, ohne ihnen den Glauben aufdrängen zu wollen, und dass folglich jede Form des Proselytismus dem Christlichen zuwider ist.

Der ökumenische Dialog mit den evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Bewegungen muss sich deshalb auf eine gemeinsame Praxis der Evangelisierung ohne jeden Proselytismus konzentrieren. In diesem Dialog muss zunächst wahrgenommen werden, dass das Stichwort des Proselytismus in einem verschiedenen Sinn verwendet werden kann.[25] In einer positiven oder zumindest neutralen Sinnrichtung kann das Wort alle Bemühungen einer Religionsgemeinschaft bezeichnen, um neue Mitglieder zu gewinnen. In der ökumenischen Diskussion überwiegt jedoch seit langem die negative Sinnrichtung des Wortes, unter dem alle Vorkehrungen einer Religionsgemeinschaft zu verstehen sind, um um jeden Preis und unter Anwendung aller irgendwie wirksamen Mittel neue Mitglieder zu gewinnen. Diese negative Konnotation des Wortes „Proselytismus“ ist in der Ökumenischen Bewegung dominierend geworden, und zwar seit jenem Studiendokument, das von der Vollversammlung des Ökumenischen Weltrates der Kirchen in Neu Delhi im Jahre 1961 angenommen worden ist und in dem es heisst: „Proselytismus ist nicht etwas völlig anderes als echtes Zeugnis; es ist das Zerrbild des Zeugnisses. Das Zeugnis wird verzerrt, wenn – heimlich oder offen – Überredungskünste, Bestechung, unerlaubter Druck oder Einschüchterung angewandt werden, um eine scheinbare Bekehrung zu erreichen.“[26] In derselben Sinnrichtung hat auch das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ jede Form des Proselytismus abgelehnt, indem es hervorhebt, „bei der Verbreitung des religiösen Glaubens und bei der Einführung von Gebräuchen“ müsse man sich „allzeit jeder Betätigung enthalten, die den Anschein erweckt, als handle es sich um Zwang oder um unehrenhafte oder ungehörige Überredung, besonders wenn es weniger Gebildete und Arme betrifft“[27].

Für das Konzil versteht es sich dabei freilich von selbst, dass mit dem Prinzip der Religionsfreiheit und der in ihm begründeten Ablehnung jeder Gestalt des Proselytismus der Missionsauftrag der Kirche keineswegs in Frage gestellt ist, wie Artikel 14 von „Dignitatis humanae“ klar zeigt: „Nach dem Willen Christi ist die katholische Kirche die Lehrerin der Wahrheit; ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit, die Christus ist, zu verkündigen und authentisch zu lehren, zugleich auch die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem Wesen des Menschen selbst hervorgehen, autoritativ zu erklären und zu bestätigen.“ Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit verpflichtet somit in keiner Weise zum Verzicht auf das missionarische Zeugnis der Kirche für die Wahrheit des Evangeliums, sondern sie verpflichtet dazu, bei der Sendung zur Evangelisierung auf alle jene Mittel zu verzichten, die der frohen Botschaft Jesu Christi nicht entsprechen, und allein die Methoden des Evangeliums anzuwenden, die in der Verkündigung des Wortes und im Zeugnis des Lebens bis hin zum Blutzeugnis bestehen. Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit trägt insofern, wie Kardinal Johannes Willebrands, der zweite Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, mit Recht betont hat, „zu einer Vertiefung der missionarischen Arbeit bei, indem sie sie wahrer und reiner werden lässt“[28].

In anderer Weise kann Evangelisierung im heutigen Lebenskontext, der ganz von der Freiheitssehnsucht des heutigen Menschen geprägt ist, nicht verwirklicht werden. Dazu gehört auch, dass der Evangelisierungsauftrag nur dann frei von jeder Form des Proselytismus wahrgenommen werden kann, wenn er eine elementare ökumenische Dimension aufweist, wenn er in ökumenischem Geist verwirklicht wird und wenn folglich Mission und Ökumene zwei Seiten derselben Medaille darstellen. Denn eine missionarische Kirche muss auch eine ökumenische Kirche sein; und eine ökumenisch engagierte und lebende Kirche bildet die Voraussetzung für eine missionarische Kirche. Die Sendung zur Evangelisierung muss einen ökumenischen Notenschlüssel haben, damit ihre Melodie nicht kakophonisch, sondern symphonisch erklingen kann, wobei beide ökumenischen Partner einander helfen können. Die evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Bewegungen können und sollen die Katholische Kirche stets daran erinnern, dass ihnen mit dem Evangelium ein so kostbares Geschenk anvertraut ist, dass sie es nicht selbstgenügsam für sich behalten dürfen. Umgekehrt kann und muss die Katholische Kirche den genannten Bewegungen ins Gewissen zurückrufen, dass man das Evangelium anderen Menschen nicht aufdrängen darf, sondern es nur weiterschenken und dazu einladen kann. In diesem Sinn wendet sich Papst Franziskus immer wieder gegen den Proselytismus, indem er ein tiefes Wort aufgreift, das Papst Benedikt XVI. bei der Eröffnung der V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik in Aparecida am 13. Mai 2007 ausgesprochen hat: „Die Kirche betreibt keinen Proselytismus. Sie entwickelt sich vielmehr durch <Anziehung>: Wie Christus mit der Kraft seiner Liebe, die im Opfer am Kreuz gipfelt, <alle an sich zieht>, so erfüllt die Kirche ihre Sendung in dem Masse, in dem sie mit Christus vereint, jedes Werk in geistlicher und konkreter Übereinstimmung mit der Liebe ihres Herrn erfüllt.“[29]

 

4. Kriterien bei der Suche nach Einheit

In diesem Dreischritt von sehen, urteilen und handeln gilt es im Dialog mit den evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Bewegungen die Frage nach dem Konzept der Einheit zu konkretisieren. Angesichts der vorhandenen Vielfalt von Einheitsvorstellungen braucht es bei dieser Fragestellung Kriterien, mit deren Hilfe man sich darüber Rechenschaft geben kann, wie die Frage nach der Einheit motiviert ist. Auf zwei solcher Kriterien soll kurz hingewiesen werden.

a) Konfessionell bedingte Einheitskonzepte

An erster Stelle muss man sich dessen bewusst sein, dass sich die Frage nach Einheit nicht abstrakt und neutral stellen lässt, dass sie vielmehr immer schon von konfessionellen Vorentscheidungen geprägt ist. Solche Vorentscheidungen werden in der ökumenischen Diskussion zumeist im Blick auf die Katholische Kirche klar benannt. Ihre leidenschaftliche Insistenz auf der sichtbaren Einheit als Ziel der Ökumenischen Bewegung wird zumeist darin begründet gesehen, dass die Katholische Kirche als weltweite Glaubensgemeinschaft in ihrem eigenen Lebensraum stark um die Erhaltung oder Wiedergewinnung der Einheit bemüht ist, so dass sie in der Versuchung steht, ihr eigenes Einheitsideal auch auf die Ebene des Ziels der Ökumenischen Bewegung zu übertragen. Ihre starke Betonung der Einheit wird deshalb zumeist mit dem Einwurf konterkariert, Einheit dürfe nicht Einheitlichkeit bedeuten und die starke Insistenz auf der Einheit laufe Gefahr, die Einheit selbst zu gefährden. Dieser Einwurf wird nicht selten dahingehend radikalisiert, dass vorgeschlagen wird, auf die Kategorie der Einheit überhaupt zu verzichten. In dieser Stossrichtung hat sich beispielsweise Konrad Raiser, der ehemalige Generalsekretär des Weltkirchenrates ausgesprochen: „Immer wieder sind im Verlauf der Geschichte der Kirche Andersdenkende unter Berufung auf die <Einheit der Kirche> ausgeschlossen oder gewalttätig verfolgt worden. Ja, man kann die These vertreten, dass die meisten Spaltungen in der Geschichte der Kirche die Folgen eines überzogenen Einheitsdenkens waren; jedenfalls wird die Vielfalt zum Problem erst, wenn sie an einer normativen Gestalt der Einheit gemessen wird. So muss die Frage gestellt werden, ob die ökumenische Diskussion nicht auf die Vorstellung von der <Einheit> der Kirche wegen des missverständlichen und statisch abstrakten Charakters dieses Begriffs verzichten sollte.“[30]

Die Alternative erblickt Konrad Raiser darin, dass im Unterschied zum früheren Paradigma, das „ungeniert vertikal in seiner Rede von der Einheit der Kirche“ war, sich jetzt ein „horizontales Verständnis der Einheit“ im Sinne der „Vermittlung zwischen unterschiedlichen Traditionen und Positionen“ durchsetzt, so dass die „Versöhnung, der Ausgleich der Verschiedenheiten zwischen den kirchlichen Traditionen, realistisch das Maximum von ökumenischer Einheit, das erreicht werden kann“, ist[31]. Wenn man diese Zielbestimmung der Ökumenischen Bewegung auf sich wirken lässt, wird man schnell entdecken, dass sie ebenso wenig neutral wie die katholische ist, sondern einen Reflex der Geschichte des Protestantismus darstellt. Denn die grosse Kirchenspaltung innerhalb der Westkirche im 16. Jahrhundert hat im Laufe der Geschichte immer weitere Spaltungen nach sich gezogen, so dass sich die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in der Zwischenzeit zu einem kaum mehr überblickbaren Pluriversum entwickelt haben. Innerhalb dieses reformatorischen Pluriversums sind auch in der Gegenwart nur äusserst marginale Bestrebungen zu mehr Einheit untereinander festzustellen; innerhalb des Weltprotestantismus müssen vielmehr vielfältige und zunehmende Fragmentierungen konstatiert werden. In dieser Situation dürfte es begründet sein, dass nicht wenige der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und Gemeinschaften grundsätzlich für Differenz und Vielfalt eintreten und das Ziel der Ökumenischen Bewegung nicht mehr in der sichtbaren Einheit im Glauben, in den Sakramenten und in den kirchlichen Ämtern sehen, sondern in der gegenseitigen Anerkennung der vielfältigen kirchlichen Realitäten als Kirchen und somit als Teile der einen Kirche Jesu Christi.

Diese typisch protestantische Konstellation wird durch die neueren evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Bewegungen noch vertieft und radikalisiert. Von daher stellt sich die Frage, was diese Problemsituation für die Suche nach der Einheit bedeutet. In einem ersten Schritt muss man sich dessen bewusst werden, dass die Vielfalt der ökumenischen Zielvorstellungen und die unterschiedlichen ökumenischen Plädoyers für die Einheit oder für die Pluralität in konfessionell-ekklesiologischen Vorentscheidungen begründet sind und dass man Wege der Versöhnung suchen muss, wie dies die katholische Theologin Eva-Maria Faber postuliert: „Die Ergänzungsbedürftigkeit der einzelnen konfessionellen Traditionen lässt sich kaum übersehen. Entstandene Einseitigkeiten und fortwirkende Neigungen zur Vereinseitigung sind auf eine Versöhnung der Verschiedenheiten in einer zukünftigen Einheit angewiesen, um nicht je wieder neu aufzubrechen.“[32]

In dieser Sinnrichtung der Versöhnung denkt vor allem auch Papst Franziskus, indem er sich an der Pneumatologie orientiert. Denn in seiner Sicht schenkt der Heilige Geist nicht nur die Einheit, sondern auch die Vielheit: „Der Heilige Geist ist der Geist der Einheit, die nicht etwa Einheitlichkeit bedeutet. Nur der Heilige Geist kann die Verschiedenheit, die Vielheit hervorrufen und zugleich die Einheit bewirken.“ Denn sein Wirken zielt auf eine Einheit, die in Vielfalt lebt, und auf eine Vielfalt, die sich in Einheit sammelt. Darin unterscheidet sich sein Wirken von unseren menschlichen Bemühungen. Denn wir Menschen wollen Einheit nach unseren menschlichen Vorstellungen und stehen dabei doch immer wieder in der Versuchung, Vereinheitlichung und Uniformität herbeizuführen. Und auf der anderen Seite wollen wir Menschen Verschiedenheit und Vielheit erzeugen und stehen doch immer wieder in der Versuchung, uns in Partikularismen und Exklusivismen zu verschliessen. Demgegenüber ist es der Heilige Geist, der Vielfalt hervorruft und Einheit wirkt. Denn der Geist Gottes ist, wie der heilige Basilius der Grosse sehr schön gesagt hat, Harmonie: „Ipse harmonia est“.[33]

b) Verschiedene Anlässe und Ursachen von Kirchenspaltungen

Ein zweites Kriterium, das bei der Suche nach einem tragfähigen Konzept der Einheit berücksichtigt werden muss, besteht in der sensiblen Wahrnehmung jener Faktoren, die in der Geschichte zu Kirchenspaltungen und damit zum Verlust der Einheit geführt haben. Denn die Wege, wie die Einheit wieder hergestellt werden kann, müssen auch die historischen Fakten bedenken, die die Spaltung massgeblich verursacht haben.

Die ersten grossen Spaltungen in der Geschichte der Christenheit im vierten und fünften Jahrhundert haben ihre Ursache darin, dass einzelne kirchliche Gemeinschaften die Lehrentscheidungen der Konzilien von Ephesus und vor allem von Chalkedon nicht angenommen und sich deshalb von der Reichskirche getrennt haben. Der theologische Grund für die Spaltungen ist dabei der Streit um eine adäquate Formulierung des Christusbekenntnisses gewesen. Die ökumenischen Dialoge haben aber zu dem erfreulichen Ergebnis geführt, dass es sich bei diesem Streit im Wesentlichen um ein Sprachproblem gehandelt hat, insofern man verschiedene philosophische Begriffe von Person und Natur verwendet hat, im Grunde aber denselben kirchlichen Christusglauben bezeugen wollte.[34] In diesem Sinn haben beispielsweise beim Besuch des Syrisch-Orthodoxen Patriarchen von Antiochien und des Ganzen Ostens, Ignatius Zakka I. Iwas, bei Papst Johannes Paul II. im Juni 1984 beide Kirchenführer in ihrer gemeinsamen Erklärung betont, „dass die Verwirrungen und die Schismen, die zwischen ihren beiden Kirchen in den späteren Jahrhunderten auftraten, in keiner Weise die Substanz ihres Glaubens betrafen oder berührten; denn diese entstanden nur durch die Unterschiede in der Terminologie, in der Kultur und durch die verschiedenen Formeln, die von den unterschiedlichen theologischen Schulen formuliert wurden, um denselben Inhalt zum Ausdruck zu bringen“. Auf Grund dieser Erkenntnis gebe es heute „keine reale Grundlage mehr für die traurigen Trennungen und Schismen, die als deren Folgen zwischen uns entstanden betreffend der Lehre der Inkarnation“ [35].

Auch beim grossen Schisma zwischen der West- und Ostkirche im 11. Jahrhundert sind gewiss auch ernsthafte theologische Fragen mit im Spiel gewesen. Aufs Ganze gesehen wird man jedoch urteilen müssen, dass die eigentlichen Ursachen für die spätere Trennung in einer zunehmenden gegenseitigen kulturellen Entfremdung wahrgenommen werden müssen[36], bei der unterschiedliche Spiritualitäten eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben, die nicht selten zu Unverständnis und Misstrauen geführt haben und teilweise an Fragen festgemacht worden sind, die wir heute als unterschiedliche disziplinarische Anweisungen einschätzen oder als Ausfaltungen einer legitimen Vielfalt innerhalb einer gegebenen Einheit verstehen, wie beispielsweise die Verwendung von gesäuertem oder ungesäuertem Brot in der Feier der Eucharistie oder andere Unterschiede in den Riten oder die verschiedenen liturgischen Kalender. Insofern haben unterschiedliche Verstehensweisen und verschiedene Spiritualitäten die Kirchenspaltung wesentlich mit verursacht, wie Kardinal Walter Kasper mit Recht feststellt: „Die Christenheit hat sich nicht primär auseinander diskutiert und über unterschiedlichen Lehrformeln zerstritten, sondern auseinander gelebt.“[37]

Als wesentlich vielfältiger und komplexer müssen die Anlässe und Ursachen der Kirchenspaltungen in der Westkirche im 16. Jahrhundert beurteilt werden. Dabei müssen nicht nur die Reformunwilligkeit der damaligen katholischen Kirche, sondern auch wichtige politische Faktoren in Betracht gezogen werden. Während es sich beispielsweise beim Reformator Martin Luther ursprünglich um eine innerkirchliche Bewegung der Erneuerung der ganzen Christenheit aus dem Geist der Wahrheit Gottes gehandelt hat, sind die Spaltung der Kirche und in der Folge das Entstehen eines eigenen evangelischen Kirchenwesens vor allem das Ergebnis von politischen Entwicklungen gewesen, wobei Luther selbst teilweise Unterstützung bei politischen Kräften gesucht hat und mit der Zeit immer mehr auch von bestimmten Fürsten für deren eigene Interesse instrumentalisiert worden ist. Nochmals anders sind im Weltprotestantismus die Anlässe und Ursachen für das Entstehen von evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Bewegungen zu beurteilen. Denn diese Bewegungen haben ihre historischen Wurzeln nicht so sehr in den Kirchenspaltungen im 16. Jahrhundert, sondern eher am Ende des 19. Jahrhunderts und haben sich aus den traditionellen Pfingstkirchen und charismatischen Bewegungen herausentwickelt.

 

5. Gestalten der ökumenischen Suche nach Einheit

Die Anlässe und Ursachen der Kirchenspaltungen sind, wie die wenigen Beispiele verdeutlicht haben, sehr verschieden gewesen. Von daher muss es auch verschiedene Wege geben, die verloren gegangene Einheit wieder zu finden und wieder herzustellen, zumal das Zweite Vatikanische Konzil ausdrücklich festhält, dass die ökumenische Verpflichtung alle Christen angeht: „Die Sorge um die Wiederherstellung der Einheit ist Sache der ganzen Kirche, sowohl der Gläubigen wie auch der Hirten, und geht einen jeden an, je nach seiner Fähigkeit, sowohl in seinem täglichen christlichen Leben wie auch bei theologischen und historischen Untersuchungen.“[38]. Damit alle Getauften am ökumenischen Bemühen beteiligt werden können, muss die ökumenische Suche nach Einheit auch und gerade mit den neuen evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Bewegungen verschiedene Gestalten aufweisen.

a) Spiritueller Ökumenismus: Gebet und Martyrium

An erster Stelle ist der spirituelle Ökumenismus zu nennen, den das Zweite Vatikanische Konzil als die „Seele der ganzen ökumenischen Bewegung“ bezeichnet hat.[39] Denn das Gebet um die Einheit der Christen ist die basalste Form der Ökumene. Mit dem Gebet bringen wir Christen unsere Glaubensüberzeugung zum Ausdruck, dass wir Menschen die Einheit nicht machen und auch nicht über ihre Gestalt und ihren Zeitpunkt befinden können. Wir Menschen können Spaltungen produzieren, wie die Geschichte und auch die Gegenwart zeigen. Die Einheit hingegen können wir nur empfangen, und zwar vom Heiligen Geist, der die göttliche Quelle und Triebkraft der Einheit ist, wie Papst Franziskus betont: „Unsere Einheit ist nicht in erster Linie Frucht unseres Konsenses oder der Demokratie innerhalb der Kirche oder unserer Bemühungen, uns zu einigen, sondern sie kommt von ihm, der Einheit in der Vielfalt schafft, denn der Heilige Geist ist Eintracht, er bewirkt immer Harmonie in der Kirche.“[40] Die beste Vorbereitung, um die Einheit als Geschenk des Heiligen Geistes zu empfangen, ist das Gebet um die Einheit. Und das Gebet seinerseits ist und bleibt das entscheidende Vorzeichen allen ökumenischen Bemühens.

Eine besondere Form des spirituellen Ökumenismus ist jene Gestalt, die Papst Johannes Paul II „Ökumene der Märtyrer“ genannt hat und die Papst Franziskus als „Ökumene des Blutes“ bezeichnet. Mit dieser Form wird Bezug genommen auf die tragische Realität, dass in der heutigen Welt zahllose Christen massiven Verfolgungen ausgesetzt sind, dass heute sogar mehr Christenverfolgungen stattfinden als in den ersten Jahrhunderten und dass die christlichen Kirchen Märtyrerkirchen geworden sind. Dabei haben heute alle Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ihre Märtyrer, so dass man von einer eigentlichen Ökumene der Märtyrer sprechen muss.[41] Denn Christen werden heute nicht verfolgt, weil sie orthodox oder katholisch, protestantisch oder pentekostalisch, sondern weil sie Christen sind. Trotz aller Tragik liegt in der Ökumene der Märtyrer eine grosse Verheissung beschlossen: Wie die Alte Kirche überzeugt gewesen ist, dass das Blut der Märtyrer Same von neuen Christen ist, so dürfen wir auch heute hoffen, dass sich das Blut von so vielen Märtyrern unserer Zeit einmal als Same der vollen ökumenischen Einheit des Leibes Christi erweisen wird. Wir dürfen sogar überzeugt sein, dass wir im Blut der Märtyrer bereits eins geworden sind. Weil das Leiden so vieler Christen in der heutigen Welt eine gemeinsame Erfahrung bildet, die sich als stärker erweist als die Differenzen, die die christlichen Kirchen noch trennen, ist das gemeinsame Martyrium der Christen in meinen Augen das überzeugendste Zeichen der Ökumene heute.

b) Praktischer Ökumenismus: Gemeinsames Handeln und ökumenisches Zeugnis

Der spirituelle Ökumenismus erweist sich freilich nur als glaubwürdig, wenn er von jener Form begleitet wird, die man als praktischen Ökumenismus bezeichnen kann. Er bedeutet, dass man all das gemeinsam tun soll, was man gemeinsam tun kann, weil die Wege zur Einheit in der Ökumene ebenso wichtig wie das Ziel sind. Es ist deshalb entscheidend, dass die verschiedenen Christen und kirchlichen Gemeinschaften auf dem Weg zur Einheit sind, und zwar in jener Überzeugung, die Papst Franziskus mit prägnanten Worten zum Ausdruck gebracht hat: „Die Einheit wird nicht kommen wie ein Wunder am Ende. Die Einheit kommt auf dem Weg. Der Heilige Geist bewirkt sie im Unterwegssein.“[42]

Gemeinsames Handeln zwischen verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften drängt sich vor allem im Blick auf die grossen Herausforderungen in der heutigen Zeit auf wie die Parteinahme für die Armen und für die Bewahrung der Schöpfung, die Förderung des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit, das besondere Engagement für die jungen und alten Menschen in der heutigen Gesellschaft, die Verteidigung des Rechts auf Leben in allen seinen Phasen und Dimensionen, das Engagement für Religionsfreiheit und der Schutz der gesellschaftlichen Institutionen von Ehe und Familie. Auch und vor allem die zunehmende Globalisierung muss für die Christen ein weiteres Motiv sein, die ökumenische Zusammenarbeit im Dienst des ganzheitlichen Wohls der Menschheitsfamilie zu konsolidieren und zu intensivieren. Wenn es in dieser Sinnrichtung Christen und Kirchen gelingt, zu den grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens und sozialen Zusammenlebens mit einer Stimme zu sprechen, wird nicht nur die christliche Stimme in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit gestärkt, sondern dient dies auch der Glaubwürdigkeit des ökumenischen Zeugnisses.

Die ökumenische Zusammenarbeit zwischen Christen und Kirchen impliziert auch ein gemeinsames Zeugnis für die Wahrheit des Evangeliums. Denn die nach wie vor bestehenden Trennungen in der Christenheit schaden der Glaubwürdigkeit der Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi in der heutigen Welt. Sie wäre gewiss viel grösser, wenn die Christen ihre Spaltungen überwinden und ein gemeinsames Zeugnis geben könnten, wie Papst Franziskus mit Recht betont: „Daher ist der Einsatz für eine Einheit, die die Annahme Jesu Christi erleichtert, nicht länger blosse Diplomatie oder eine erzwungene Pflichterfüllung und verwandelt sich in einen unumgänglichen Weg der Evangelisierung.“[43]

c) Ökumenismus der Liebe: geschwisterliche Begegnungen in Wort und Zeichen

Die elementare Voraussetzung für solchen praktischen Ökumenismus ist der ökumenische Dialog der Liebe, der Geschwisterlichkeit und der Freundschaft. Er hat die „Brüderlichkeit“ unter den Christen und christlichen Gemeinschaften wieder entdecken lassen, die Papst Johannes Paul II. zu den wichtigsten Früchten des ökumenischen Bemühens gezählt hat.[44] Denn die zahlreichen Begegnungen, die verschiedenen Gespräche und die wechselseitigen Besuche haben zwischen den verschiedenen Kirchen ein Netz von freundschaftlichen Beziehungen entstehen lassen, die das tragfähige Fundament für alle weiteren ökumenischen Bemühungen darstellen.

Der Ökumenismus der Liebe dient vor allem der Versöhnung zwischen den Kirchen, die sich in Bitten um Vergebung für in der Vergangenheit begangene Sünden konkretisiert und oft mit ausdrucksstarken Gesten verbunden ist, die die bessere Sprache als viele Worte sein können. Zu erinnern ist an Papst Paul VI, bei dem solche Gesten integral zu seinem ökumenischen Vokabular gehört haben. Er hat sich beispielsweise im Jahre 1973 in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan vor dem Metropoliten Meliton als dem Gesandten des damaligen Ökumenischen Patriarchen Demetrios niedergekniet und um Vergebung für vergangene Sünden gegenüber den orthodoxen Christen gebeten. Nicht zu vergessen sind die inständigen Bitten von Papst Johannes Paul II. um Vergebung vor allem in der Liturgie am Ersten Fastensonntag im Jahre des Grossen Jubiläums 2000. Einen grossen Schritt der Versöhnung hat Papst Franziskus bei seinem privaten Besuch beim pentekostalischen Pastor Giovanni Traettino in Caserta im Juli 2014 unternommen. Unter Bezugnahme auf die Verfolgung von Pfingstkirchen während des Faschismus in Italien, an der auch Katholiken beteiligt gewesen sind, die die Mitglieder dieser Kirchen als „Schwärmer“ und „Verrückte“ stigmatisiert haben, hat sich Papst Franziskus verpflichtet gewusst, um Entschuldigung zu bitten: „Ich bin der Hirte der Katholiken: ich bitte euch dafür um Vergebung! Ich bitte euch um Vergebung für jene katholischen Brüder und Schwestern, die nicht verstanden haben und die vom Teufel versucht wurden und dasselbe getan haben wie Josefs Brüder. Ich bitte den Herrn, dass er uns die Gnade gewähre, dies zu erkennen und zu vergeben.“[45] Indem Papst Franziskus auf die alttestamentliche Geschichte von Josef und seinen Brüdern Bezug genommen hat, hat er zum Ausdruck bringen wollen, dass die Christen, die in evangelikalen und pentekostalischen Bewegungen leben und wirken, für ihn Brüder sind, die wir wiedergefunden haben, wie die Söhne Jakobs in Ägypten ihren Bruder Josef.

Solche Gesten übersetzen eine der Grundüberzeugungen des Ökumenismusdekrets des Zweiten Vatikanischen Konzils ins konkrete Leben, dass es nämlich „keinen echten Ökumenismus ohne innere Bekehrung“ geben kann und dass es dabei in erster Linie nicht um die Bekehrung der anderen geht, sondern um die eigene Bekehrung, die auch die Bereitschaft einschliesst, eigene Schwächen selbstkritisch wahrzunehmen und die Sünden in Demut zu bekennen[46]. Solcher Ökumenismus der Umkehr ist eine besonders glaubwürdige Gestalt der Ökumene der Liebe.

d) Ökumenismus der Wahrheit: geduldige Aufarbeitung der theologischen Differenzen

Nur im Lebensraum des Dialogs der Liebe ist auch der Ökumenismus der Wahrheit möglich, nämlich die theologische Auseinandersetzung mit jenen Faktoren, die Ursachen der nach wie vor bestehenden Kirchentrennungen sind. Der theologische Dialog der Wahrheit setzt aber, um glaubwürdig sein zu können, die anderen Formen des Ökumenismus voraus. Hier scheint der Grund auf, dass Papst Franziskus die Bedeutung des theologischen Dialogs der Wahrheit relativiert, indem er betont, dass die Einheit der Christen „nicht das Ergebnis raffinierter theologischer Diskussionen“ sein wird, „in denen jeder versucht, den anderen von der Stichhaltigkeit der eigenen Ansichten zu überzeugen. Der Menschensohn wird wiederkommen und uns noch beim Diskutieren finden.“ [47]

Auf der anderen Seite sind die theologischen Dialoge aber notwendig, um dem ökumenischen Ziel der Einheit näher zu kommen. Denn es kann keine Einheit an der Wahrheit des Glaubens vorbei geben. Bei Papst Franziskus finden sich deshalb immer auch wieder klare Bekenntnisse zur notwendigen Rolle des theologischen Dialogs in den ökumenischen Beziehungen, den er als wichtigen Beitrag zur Förderung der vollen Einheit der Christen unterstützt. So hat er zusammen mit dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios in ihrer gemeinsamen Erklärung in Jerusalem im Mai 2014 hervorgehoben, „dass der theologische Dialog nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Theologie anstrebt, auf dem ein Kompromiss erreicht werden kann“, dass es vielmehr darum geht, „das eigene Verständnis der ganzen Wahrheit, die Christus seiner Kirche geschenkt hat, zu vertiefen – eine Wahrheit, in die wir unaufhörlich weiter eindringen, wenn wir den Eingebungen des Heiligen Geistes folgen“[48].

Der theologische Dialog der Wahrheit ist in besonderer Weise dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen anvertraut. Mit dieser Aufgabe fragen wir in der bevorstehenden Plenaria nach der ökumenischen Bedeutung von evangelikalen, charismatischen und pentekostalen Bewegungen und ihren Konsequenzen für das Konzept der christlichen Einheit, um auf diesem Weg den am Beginn des 21. Jahrhunderts wohl am dynamischsten wachsenden Teil der Christenheit besser kennen zu lernen und Wege der Versöhnung und der Einheit auszukundschaften.

 

 

[1]  Prolusio bei der Plenaria des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen am 25. September 2018.

[2]  Unitatis redintegratio, Nr. 1.

[3]  S. Schmidt, Agostino Bea. Il Cardinale dell’unità (Roma 1987); Idem, Agostino Bea, Cardinale dell’ecumenismo de del dialogo (Roma 1996).

[4] Vgl. H. J. Pottmeyer, Die Öffnung der römisch-katholischen Kirche und die ekklesiologische Reform des 2. Vatikanums. Ein wechselseitiger Einfluss, in: Paolo VI e l´Ecumenismo. Colloquio Internationale di Studio Brescia 1998 (Brescia – Roma 2001) 98-117.

[5]  J. Ratzinger, Das Konzil auf dem Weg. Rückblick auf die zweite Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils (Köln 1964) 21.

[6]  Ench. Vat. Vol 1 Documenti del Concilio Vaticano II, 104.f.

[7]  Vgl. K. Koch, L´attività legislativa di Giovanni Paolo II e la promozione dell´unità dei cristiani, in: L. Gerosa (Ed.), Giovanni Paolo II: Legislatore della Chiesa. Fondamenti, innovazioni e aperture. Atti del Convegno di Studio (Città del Vaticano 2013) 160-177.

[8]  Vgl. K. Kardinal Koch, Dienst an der vollen und sichtbaren Einheit. Das Ökumeneverständnis von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI., in: M. C. Hastetter / St. Athanasiou (Hrsg.), „Ut unum sint“. Zur Theologie der Einheit bei Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. = Ratzinger-Studien. Band 13 (Regensburg 2018) 10-38.

[9]  Vgl. H. Destivelle, Le pape Francois: un oecuménisme en chemin, dans: Idem, Conduis-la vers l´unité parfaite. Oecuménisme et synodalité (Paris 2018) 115-152.

[10]  Gemeinsame Erklärung anlässlich des gemeinsamen katholisch-lutherischen Reformationsgedenkens am 31. Oktober 2016.

[11]  W. Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland (Göttingen 1997) 25.

[12]  W. Pannenberg, Reformation und Einheit der Kirche, in: Ders., Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze (Göttingen 1977) 254-267, zit. 255.

[13]  Franziskus, Ansprache beim Ökumenischen Gebet im Ökumenischen Zentrum des ÖRK in Genf am 21. Juni 2018.

[14]  A. Wikenhauser und  O. Kuss (Hrsg.), Regensburger Neues Testament. 7. Band: Paulusbriefe II (Regensburg 1959) 146.

[15]  P.-W. Scheele, Ökumene – wohin? Unterschiedliche Konzepte kirchlicher Einheit im Vergleich, in: St. Ley, I. Proft, M. Schulze (Hrsg.), Welt vor Gott. Für George Augustin (Freiburg i. Br. 2016) 165-179, zit. 165.

[16]  Ch. Markschies, Neue Chance für die Ökumene? in: Nach der Glaubensspaltung. Zur Zukunft des Christentums, in: Herder Korrespondenz Spezial (Freiburg i. Br. 2016) 17-21, zit. 20.

[17]  Vgl. J. Müller – K. Gabriel (Eds.), Evangelicals, Pentecostal Churches, Charismatics. New religious mouvements as a challenge for the Catholic Church (Quezon 2015).

[18]  U. H. J. Körner, Ökumenische Kirchenkunde (Leipzig 2018) 261.

[19]  B. Farrell, Der Päpstliche Rat zur Förderung der Einheit der Christen im Jahre 2003, in: Catholica 58 (2004) 81-104, zit. 97.

[20]  M. Eckholt, Pentekostalismus. Eine neue „Grundform“ des Christseins. Eine theologische Orientierung zum Verhältnis von Spiritualität und Gesellschaft, in: T. Kessler / A.-P. Rethmann (Hrsg.), Pentekostalismus. Die Pfingstbewegung als Anfrage an Theologie und Kirche = Weltkirche und Mission. Band 1 (Regensburg 2012) 202-225, zit. 202.

[21]  Benedikt XVI., Ansprache bei der Begegnung mit Vertretern des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im Augustinerkloster Erfurt am 23. September 2011.

[22]  H.-P. Rethmann, Die geschichtliche Entwicklung der Pfingstbewegung und ihre Praxis. Anfragen an Theologie und Kirche, in: T. Keller, H.-P- Rethmann (Hrsg.), Pentekostalismus. Die Pfingstbewegung als Anfrage an Theologie und Kirche (Regensburg 2012) 15-33, zit. 30.

[23]  Unitatis redintegratio, Nr. 4.

[24]  W. Kasper, Ökumene im Wandel. Einführung bei der Vollversammlung des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen am 13. November 2006, in: Ders., Wege zur Einheit der Christen = Gesammelte Schriften. Band 14 (Freiburg i. Br. 2012) 498-518, zit. 512.

[25]  Vgl. S. Ferrari, Proselytism and human rights, in: J. Witte, Jr. and F. S. Alexander (Ed.), Christianity and Human Rights. An Introduction (Cambridge 2010) 253-266.

[26]  F. Lüpsen (Hrsg.), Neu-Delhi-Dokumente (Witten 1962) 104-106.

[27]  Dignitatis humanae, Nr. 4.

[28]  J. Kardinal Willebrands, Religionsfreiheit und Ökumenismus, in: Ders., Mandatum Unitatis. Beiträge zur Ökumene (Paderborn 1989) 54-69, zit. 63.

[29]  Benedikt XVI., Predigt in der Eucharistiefeier zur Eröffnung der V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik in Aparecida am 13. Mai 2007.

[30]  K. Raiser, Ökumene im Übergang. Paradigmenwechsel  in der ökumenischen Bewegung (München 1989) 120.

[31]  Ebda. 119f.

[32]  E.-M. Faber, „Sich ausstrecken auf das Kommende“. Plädoyer für eine antizipatorische Struktur der Ökumene, in:  A. Birmelé / W. Thönissen (Hrsg.), Auf dem Weg zur Gemeinschaft. 50 Jahre internationaler evangelisch-lutherisch / römisch-katholischer Dialog (Leipzig-Paderborn 2018) 209-234, zit. 226.

[33]  Franziskus, Homilie in der Katholischen Heilig-Geist-Kathedrale in Istanbul am 29. November 2014.

[34]  Vgl. Th. Hainthaler, „Jesus der Christus im Glauben der Kirche“. Christologische Forschungen und ökumenischer Dialog mit Kirchen des Ostens, in: Catholica 71 (2017) 183-204.

[35]  Erklärung von Papst Johannes Paul II. und dem syrisch-orthodoxen Patriarchen von Antiochien und dem Ganzen Osten, Ignatius Zakka I. Iwas, zu gegenseitigen pastoralen Hilfen 23. Juni 1984, in: H. Meyer, D. Papandreou, H. J. Urban, L. Vischer (Hrsg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung. Band 2: 1982-1990 (Paderborn – Frankfurt a. M. 1992) 571-574.

[36]  Vgl. Y. Congar, Zerrissene Christenheit. Wo trennten sich Ost und West? (Wien 1959).

[37] W. Kardinal Kasper, Wege der Einheit. Perspektiven für die Ökumene (Freiburg i. Br. 2005) 208.

[38]  Unitatis redintegratio, Nr. 5.

[39]  Unitatis redintegratio, Nr. 8.

[40]  Franziskus, Ansprache während der Generalaudienz am 15. September 2013.

[41]  Vgl. K. Cardinal Koch, Christenverfolgung und Ökumene der Märtyrer. Eine biblische Besinnung (Norderstedt 2016).

[42]  Franziskus, Predigt in der Vesperfeier am Hochfest der Bekehrung des Apostels Paulus am 25. Januar 2014.

[43]  Franziskus, Evangelii gaudium, Nr. 246.

[44]  Johannes Paul II., Ut unum sint, Nr. 41-42.

[45]  Franziskus, Ansprache beim Privaten Besuch in Caserta aus Anlass der Begegnung mit Pastor Giovanni Traettino am 28. Juli 2014.

[46]  Unitatis redintegratio, Nr. 7.

[47]  Franziskus, Homilie in der Vesperfeier am Fest der Bekehrung des Apostels Paulus am 25. Januar 2015.

[48] Gemeinsame Erklärung von Papst Franziskus und dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus bei der Privaten Begegnung in der Apostolischen Delegation in Jerusalem am 25. Mai 2014.