Die gemeinsame Erklärung über die Rechtfertigungslehre
in katholischer Sicht

Cardinal Kurt Koch

Krakau, 19. September 2023

 

Im Sinne einer kurzen Einführung in das nachfolgende ökumenische Gespräch konzentriere ich meine Überlegungen auf drei Perspektiven:

1. Die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders durch Gottes Gnade im Glauben an Jesus Christus hat Martin Luther als jenen Artikel bezeichnet, von dem man „nichts weichen oder nachgeben“ kann, „es falle Himmel und Erden oder was nicht bleiben will“ (Schmalkaldische Artikel, 2. Teil. Art. 1).

Die Auseinandersetzungen um diese Lehre haben sowohl in den Lutherischen Bekenntnisschriften als auch in den Dekreten des Konzils von Trient ihren Niederschlag in gegenseitigen Lehrverurteilungen gefunden, die bis in die Gegenwart hinein verbindliche Kraft und damit auch kirchentrennende Wirkung gehabt haben. Über diese zentrale Glaubenslehre, die im 16. Jahrhundert den Kern der theologischen Kontroversen gebildet hat und zu einem der Hauptgründe für die Spaltung in der Kirche im Abendland geworden ist, konnte jedoch mit der Gemeinsamen Erklärung zu Grundfragen der Rechtfertigungslehre im Jahre 1999 in Augsburg ein weitgehender Konsens gefunden werden, der von den lutherischen und katholischen Lehrverurteilungen nicht mehr getroffen wird. Dies darf als wichtiger Meilenstein im Dialog zwischen Katholiken und Lutheranern und in der Ökumenischen Bewegung überhaupt gewürdigt werden, für den ich bleibend dankbar bin.

Die Terminologie „Rechtfertigung“ ist zwar dem heutigen Glaubensbewusstsein nicht nur in der Katholischen Kirche weithin fremd geworden oder gar geblieben. Die Botschaft des damit Gemeinten hat jedoch nichts an Aktualität eingebüsst, wohl aber viel an Dringlichkeit gewonnen. Denn die Botschaft, dass der Mensch seine Würde und Identität nicht selbst erschaffen muss und auch gar nicht kann, dass sie ihm als „Augapfel Gottes“ vielmehr in Gnade von Gott geschenkt sind, ist eine befreiende Information in die heute weithin gnadenlos gewordene Gesellschaft hinein. Die Frage freilich, wie das Wirken der Gnade Gottes und das Wirken des freien Menschen zusammengehen, ist eine Frage, die die Katholische Kirche auch heute noch immer anders akzentuiert. Wenn ich freilich die theologischen Diskussionen in den reformatorischen Gemeinschaften beispielsweise über Rechtfertigung und Gerechtigkeit und über Rechtfertigung und Heiligung verfolge, muss ich feststellen, dass diese Frage auch in diesen Gemeinschaften heute offener gestellt wird.

2. Die Gemeinsame Erklärung über Grundfragen der Rechtfertigungslehre ist für mich auch deshalb von bleibender Bedeutung, weil sie zeigt, dass die wiederzugewinnende Einheit der Kirche zutiefst die Wahrheit des Glaubens berührt und dass das ökumenische Bemühen der Wiederherstellung der Einheit der Kirche als jener Gemeinschaft gewidmet sein muss, die in Treue zum Evangelium und zum apostolischen Glauben lebt. Die Ökumene ist zutiefst eine Frage des Glaubens und darf nicht als ein politisches Problem, das auf dem Weg von Kompromissen gelöst werden könnte, missverstanden werden. Denn die Einheit der Kirche kann letztlich nie etwas anderes sein als Einheit im Apostolischen Glauben, genauer in dem Glauben, auf den der Einzelne getauft wird und der jedem neuen Glied am Leib Christi in der Taufe geschenkt und anvertraut wird.

3. Damit bin ich bereits bei der dritten Perspektive: „Rechtfertigung“ ist in erster Linie nicht eine Lehre, sondern ein Geschehen, genauer ein Heilsgeschehen. Denn Rechtfertigung ereignet sich im Sakrament der Taufe. Wenn das entscheidende Heilsgeschehen sakramental vermittelt ist, kann die Kategorie des Sakramentalen nicht weiterhin zwischen uns stehen, sondern sollte auch darüber theologischer Konsens gefunden werden können. Nur in dieser Glaubenstiefe sind die Taufe und ihre gegenseitige Anerkennung das bleibende Fundament des ökumenischen Bemühens. Christliche Ökumene ist immer baptismale Ökumene.

Mit diesen drei Perspektiven werden wir im Dialog mit dem Lutherischen Weltbund und mit allen aus den Reformationen hervorgegangenen Kirchen und Gemeinschaften in eine gute Zukunft hinein gehen können.