WELCHE EINHEIT SUCHEN WIR?

Reflexionen zum Ziel der Ökumenischen Bewegung in katholischer Sicht

(Kloster Loccum, Deutschland, 13. März 2023)

 

 

1. Einheit im Glaubensbekenntnis - und in der kirchlichen Realität?

Im Apostolischen Credo bekennen wir Christen die „heilige, katholische Kirche“. Im Grossen Glaubensbekenntnis von Nicaea und Konstantinopel – wie auch in anderen griechischen Bekenntnisformeln im vierten Jahrhundert – wird das Bekenntnis zur Einheit der Kirche nicht nur hinzugefügt, sondern auch besonders hervorgehoben und vor allem an die erste Stelle gesetzt, und zwar in der Überzeugung, dass die Heiligkeit der Kirche des einen Gottes und des einen Herrn Jesus Christus ihre Einheit unabdingbar einfordert. Denn die Einheit aller Christen in der einen Kirche ist nicht einfach ein an sich wünschenswertes Ziel, das man unter Umständen ohne Schaden für den christlichen Glauben auch vernachlässigen könnte. Mit dem evangelischen Ökumeniker Wolfhart Pannenberg muss man vielmehr das klare Urteil fällen: „Ohne die Einheit aller Christen ist Kirche im Vollsinn des Wortes gar nicht realisiert.“[1]

Wenn das Kirchesein der Kirche Jesu Christi mit ihrer Einheit steht oder fällt, dann tritt in der heutigen Situation der Christenheit ein ärgerlicher Zwiespalt an den Tag: Auf der einen Seite stimmen alle Christen in dem Grossen Glaubenssymbol überein, mit dem sie „die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ bekennen. Auf der anderen Seite jedoch leben die Christen, die sich zur einen Kirche bekennen, nach wie vor in verschiedenen voneinander getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. Von daher stellt sich die bedrängende und unabweisbare Frage, wo denn die von Christus gewollte und begründete eine Kirche in der konkreten Realität zu finden ist.

Diesen elementaren Widerspruch zwischen dem gemeinsamen Glaubensbekenntnis zur einen Kirche und der historisch gewordenen und auch heute greifbaren empirischen Realität des Getrenntseins in verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften hat das Zweite Vatikanische Konzil sensibel wahrgenommen. In seinem Dekret über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio“ geht es von der theologischen Fundamentalüberzeugung aus, dass Jesus Christus „eine einige und einzige Kirche“ begründet hat. Diese Glaubensüberzeugung wird sodann mit der geschichtlichen und empirischen Tatsache konfrontiert, dass es de facto eine Vielzahl von Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften gibt, die zudem alle vor den Menschen den Anspruch erheben, das „wahre Erbe Jesu Christi“ zu repräsentieren. Von daher kann der ebenso falsche wie fatale Eindruck entstehen, „als ob Christus selbst geteilt wäre“. Dem Konzil hat sich deshalb das Urteil aufgedrängt, dass die Spaltungen in der Kirche „ganz offenbar dem Willen Christi“ widersprechen, ein „Ärgernis für die Welt“ darstellen und ein „Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums vor allen Geschöpfen“ sind. Das Ökumenismusdekret hält folglich bereits in seinem ersten Satz nicht nur als sein Ziel, sondern auch als Ziel des ganzen Konzils fest: „Die Einheit aller Christen wiederherstellen zu helfen, ist eine der Hauptaufgaben des Heiligen Ökumenischen II. Vatikanischen Konzils.“[2]

Mit dieser Grundsatzerklärung nimmt das Konzil das Ziel der Ökumenischen Bemühungen in der Wiederherstellung der sichtbaren Einheit der Kirche wahr. Diese Zielbestimmung der sichtbaren Einheit der Kirche ist auch in der Ökumenischen Bewegung wegleitend geworden. Der Ökumenische Weltrat der Kirchen bezeichnet es im dritten Artikel seiner Verfassung als primäre Aufgabe, „die Kirchen aufzurufen zu dem Ziel der sichtbaren Einheit im einen Glauben und der einen eucharistischen Gemeinschaft, die ihren Ausdruck im Gottesdienst und im gemeinsamen Leben in Christus findet, und auf diese Einheit zuzugehen, damit die Welt glaube“[3].

 

2. Strittigkeit des Ökumenischen Zieles

Beinahe sechzig Jahre nach dem kirchenlehramtlichen Eintritt der Katholischen Kirche in die weltweite Ökumenische Bewegung stellt sich die Frage, wie es um diesen ökumenischen Konsens heute steht. Dass er in der Zwischenzeit brüchig geworden ist, hat bereits im Jahre 1980 die Gemeinsame Römisch-katholische / Evangelisch-lutherische Kommission in ihrem Dokument „Wege zur Gemeinschaft“ zur Feststellung veranlasst: „Wir brauchen eine <gemeinsame Schau>, weil wir uns weiter auseinanderleben, wenn wir nicht auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet sind. Verstehen wir unter diesem Ziel Entgegengesetztes, dann bewegen wir uns, wenn wir konsequent sind, notwendigerweise in entgegengesetzte Richtungen.“[4] Mit diesen klarsichtigen Worten hat die Dialogkommission auf die besondere Schwierigkeit hingewiesen, die dann gegeben ist, wenn in der Ökumenischen Bewegung kein Konsens über ihr Ziel mehr bestehen würde. Wenn die verschiedenen Partner in der Ökumene kein gemeinsames Ziel vor ihren Augen haben, sondern in einer sehr unterschiedlichen Weise verstehen und verwirklichen, was zur Einheit der Kirche unabdingbar gehört, besteht die grosse Gefahr, dass sie in verschiedenen Richtungen voranschreiten, um nachträglich entdecken zu müssen, dass sie sich möglicherweise noch weiter als bisher voneinander entfernt haben.

Diese klarsichtige Wegweisung hat auch nach einem halben Jahrhundert des ökumenischen Bemühens ihre Aktualität keineswegs eingebüsst. Denn die diagnostizierte Gefahr ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht kleiner geworden, insofern zwischen den verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften über das Ziel der Ökumenischen Bewegung bisher keine wirklich tragfähige Übereinkunft erzielt werden konnte und frühere diesbezügliche Teilkonsense wieder in Frage gestellt worden sind.

Damit kommt eine der Hauptschwierigkeiten in der heutigen ökumenischen Situation an den Tag.[5] In den bisherigen Phasen der Ökumenischen Bewegung konnten auf der einen Seite weitgehende und erfreuliche Konsense über viele bisher strittige Einzelfragen des Glaubensverständnisses und der theologischen Struktur der Kirche erzielt werden. Auf der anderen Seite jedoch bündeln sich die meisten der weithin noch bestehenden konfessionellen Differenzpunkte im nach wie vor unterschiedlich geprägten Verständnis der ökumenischen Einheit der Kirche. In diesem doppelten Sachverhalt muss man zweifellos die elementarste Herausforderung in der ökumenischen Situation heute wahrnehmen, die man mit dem verstorbenen Bischof von Würzburg und bedeutenden Ökumeniker Paul-Werner Scheele genauer in der Diagnose festmachen muss: „Man ist sich einig über das Dass der Einheit und uneinig über ihr Was.“[6] Dieses Problem hat unlängst auch der lutherische Theologe und ehemalige Direktor des Strassburger Instituts für Ökumenische Forschung, Theodor Dieter, mit eindeutigen Worten angesprochen: „Die Uneinigkeit über das Verständnis der Einheit ist wohl das grösste Problem auf dem Weg zur Einheit der Kirche.“[7]

Diese Diagnose zwingt die Frage nach den Gründen für diese schwierige Situation auf. Ein wichtiger Grund dafür dürfte zunächst darin liegen, dass in der Zwischenzeit in der ökumenischen Landschaft vor allem mit vielen evangelikalen Bewegungen, pentekostalen Gemeinschaften und anderen protestantischen Freikirchen neue Dialogpartner aufgetreten sind, die zu einer weiteren Pluralisierung der Vorstellungen des ökumenischen Ziels geführt haben. Diese Entwicklung ist zunächst durchaus positiv zu würdigen, nämlich als Konsequenz des Erfolgs der Ökumenischen Bewegung, wie der Evangelische Kirchenhistoriker Christoph Markschies mit Recht festhält: „Es engagieren sich … inzwischen so viele Menschen in der ökumenischen Bewegung, dass sich die schon anfänglich unterschiedlichen Ziele aufgrund der Menge der an der Ökumene interessierten Christenmenschen weiter pluralisiert haben.“[8] Die Schattenseite dieser an sich erfreulichen Entwicklung besteht allerdings darin, dass im Laufe der Zeit das Ziel der Ökumenischen Bewegung stets undeutlicher geworden ist, als es an ihrem Beginn gewesen ist, und folglich kaum mehr ein Konsens darüber besteht, was unter der wiederzugewinnenden Einheit der Kirche zu verstehen ist.

 

3. Mangelnde Klärung des Kirchen- und Einheitsverständnisses

Von daher wird der Blick frei auf den zweifellos entscheidenden Grund für die Strittigkeit des ökumenischen Ziels in der heutigen Situation. Die heute feststellbare Pluralität der ökumenischen Zielvorstellungen ist weithin begründet in den recht unterschiedlichen, konfessionell geprägten Konzeptionen von Kirche und ihrer Einheit, die nach wie vor unversöhnt nebeneinander stehen. Denn jede Kirche und kirchliche Gemeinschaft hat und verwirklicht ihr spezifisches Konzept von ihrem Kirchesein und ihrer Einheit und ist deshalb bestrebt, diese konfessionelle Konzeption auch auf die Ebene des Ziels der Ökumene zu übertragen, so dass es im Grunde so viele ökumenische Zielvorstellungen wie es konfessionelle Ekklesiologien gibt.[9] Dies bedeutet, dass die heute weithin noch mangelnde Verständigung über das Ziel der Ökumenischen Bewegung nicht unwesentlich in einer weithin noch fehlenden ökumenischen Verständigung über das Wesen der Kirche und ihrer Einheit begründet ist. Dieses Problem muss in der gebotenen Kürze weiter vertieft werden.

 

a) Kriterien des Kircheseins und ihrer Einheit

Die Katholische Kirche orientiert die Zeichen und Kriterien der Einheit der Kirche an der Schilderung des Lebens der Jerusalemer Gemeinde in der Apostelgeschichte (2, 42), in der drei Vollzüge als für die Einheit der Kirche konstitutiv erscheinen, nämlich die Einheit im Glauben, in der gottesdienstlichen Feier und in der geschwisterlichen Gemeinschaft. Die Katholische Kirche hält von daher an der ursprünglich gemeinsamen Zielvorstellung der sichtbaren Einheit im Glauben, in den Sakramenten und in den kirchlichen Ämtern fest. Es versteht sich dabei leicht, dass diese starke Insistenz auf der sichtbaren Einheit der Kirche gewiss auch darin begründet ist, dass die Katholische Kirche als weltweite Glaubensgemeinschaft, die im Zusammenspiel zwischen der Vielheit der Ortskirchen und der Einheit der Universalkirche lebt, um die Erhaltung und, wo notwendig, um die Wiedergewinnung der Einheit in ihrem eigenen Lebensraum bemüht und von daher auch bestrebt ist, ihr eigenes innerkatholisches Einheitsideal auch auf die Ebene des Ziels der Ökumenischen Bewegung zu übertragen.

Dass darin das Spezifikum des katholischen Verständnisses von Kirche und ihrer Einheit liegt, lässt sich auch daran feststellen, dass ihrer starken Betonung der Einheit in den ökumenischen Gesprächen oft entgegengehalten wird, Einheit dürfe nicht Einheitlichkeit bedeuten und die starke Insistenz auf der Einheit laufe Gefahr, die Einheit selbst zu gefährden. Ein solcher Einwurf wird nicht selten dahingehend radikalisiert, dass vorgeschlagen wird, auf die Kategorie der Einheit überhaupt zu verzichten. In dieser extremen Stossrichtung hat sich beispielsweise Konrad Raiser, ein ehemaliger Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, ausgesprochen: „Immer wieder sind im Verlauf der Geschichte der Kirche Andersdenkende unter Berufung auf die <Einheit der Kirche> ausgeschlossen oder gewalttätig verfolgt worden. Ja, man kann die These vertreten, dass die meisten Spaltungen in der Geschichte der Kirche die Folgen eines überzogenen Einheitsdenkens waren; jedenfalls wird die Vielfalt zum Problem erst, wenn sie an einer normativen Gestalt der Einheit gemessen wird. So muss die Frage gestellt werden, ob die ökumenische Diskussion nicht auf die Vorstellung von der <Einheit> der Kirche wegen des missverständlichen und statisch abstrakten Charakters dieses Begriffs verzichten sollte.“[10]

Die Schärfe dieses Urteils über die katholische Sicht des ökumenischen Ziels kann man nur verstehen, wenn man auch die Alternative zur Kenntnis nimmt, die Konrad Raiser postuliert. Im Unterschied zum früheren Paradigma, das „ungeniert vertikal in seiner Rede von der Einheit der Kirche“ gewesen sei, müsse sich jetzt ein „horizontales Verständnis der Einheit“ im Sinne der „Vermittlung zwischen unterschiedlichen Traditionen und Positionen“ durchsetzen, so dass die „Versöhnung, der Ausgleich der Verschiedenheiten zwischen den kirchlichen Traditionen, realistisch das Maximum von ökumenischer Einheit, das erreicht werden kann“, sei[11]. Wenn man diese Zielbestimmung der Ökumenischen Bewegung auf sich wirken lässt, wird man schnell entdecken, dass sie ebenso wenig wie die katholische konfessionell neutral ist, sondern eine deutliche Widerspiegelung der Geschichte des Protestantismus darstellt. Denn die grossen Spaltungen in der Kirche des Westens im 16. Jahrhundert haben im Laufe der Geschichte immer weitere Spaltungen nach sich gezogen, so dass sich die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in der Zwischenzeit zu einem kaum mehr überblickbaren Pluriversum entwickelt haben und innerhalb dieses reformatorischen Pluriversums nur marginale Bestrebungen zu mehr Einheit untereinander, sondern vielfältige und zunehmende Fragmentierungen festzustellen sind.

In dieser geschichtlichen Entwicklung dürfte es weitgehend begründet sein, dass nicht wenige der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften sich in einer grundsätzlichen Weise für Vielfalt und Differenz stark machen und folglich die ursprünglich gemeinsame Zielvorstellung der sichtbaren Einheit im Glauben, in den Sakramenten und in den kirchlichen Ämtern weitgehend aufgegeben und mit dem Postulat der gegenseitigen Anerkennung der vielfältigen kirchlichen Realitäten als Kirchen und damit als Teile der einen Kirche Jesu Christi ersetzt haben.[12] Damit ist zwar keine prinzipielle Unsichtbarkeit der Einheit der Kirche postuliert; die sichtbare Einheit besteht jedoch weitgehend bloss in der Addition aller vorhandenen Kirchentümer und der daraus folgenden gegenseitigen Anerkennung als Kirchen und damit als Teile der einen Kirche Jesu Christi.

Mit diesen wenigen Hinweisen sollte deutlich geworden sein, dass sich die Frage nach dem Ziel der Ökumenischen Bewegung und des genaueren Verständnisses der Einheit der Kirche nicht einfach in einer abstrakten und neutralen Weise stellen lässt, sondern dass sie immer schon von konfessionellen ekklesiologischen Vorentscheidungen geprägt und geleitet ist. Denn in ihnen haben die unterschiedlichen ökumenischen Plädoyers entweder – auf katholischer Seite – eher für die Einheit oder – auf protestantischer Seite – eher für die Pluralität in den ökumenischen Zielvorstellungen ihre Ursache.

 

b) Einheit der Kirche oder Kirchengemeinschaft ?[13]

Diese Frage bedarf einer weiteren Vertiefung, die hier im Blick auf die angesprochene Neubestimmung des ökumenischen Ziels in protestantischer Sicht konkretisiert werden soll. Sie hat ihren zweifellos deutlichsten Niederschlag gefunden in der im Jahre 1973 abgeschlossenen Leuenberger Konkordie, mit der das Modell von Kirchengemeinschaft verwirklicht worden ist, die als Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) lebt und sich bewusst als Gemeinschaft von bekenntnisverschiedenen Kirchen versteht.[14]

 

(1) Die Leuenberger Konkordie als protestantisches Zielmodell

Aufgrund eines gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums, das in der Rechtfertigungslehre gesehen wird, gewähren diese Kirchen einander Gemeinschaft in Wort und Sakrament, eingeschlossen die gegenseitige Anerkennung der Ordination und die Ermöglichung der Interzelebration, so dass Kirchengemeinschaft wesentlich Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft ist. Darin wird das ökumenische Ziel der Versöhnung als bereits erreicht betrachtet, wobei die getrennten Kirchen unter Wahrung ihrer konfessionellen Identitäten als selbständige institutionelle Wirklichkeiten weiter bestehen, sich aber als Kirchen wechselseitig anerkennen, und wobei die nach wie vor strittigen Lehrfragen nach der Gewährung von Kirchengemeinschaft angegangen werden sollen.

Über dieses Modell von Kirchengemeinschaft hat Wilhelm Hüffmeier mit Recht geurteilt, es sei „reformatorisch approbiert, in der Leuenberger Konkordie bewährt“ und folglich das „evangelische Modell für die kirchliche Einheit“[15]. Dass Protestanten in Europa mehr Einheit unter sich suchen, ist eine erfreuliche Entwicklung und ist auch in katholischer Sicht zu begrüssen. Das Problem besteht allerdings darin, dass die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in der Leuenberger Konkordie nicht nur das Einheitsmodell der Protestanten erblicken, sondern auch das Modell für die ökumenischen Beziehungen mit den anderen christlichen Kirchen, zumal mit der Katholischen Kirche[16].

Mit Erstaunen nehme ich zur Kenntnis, dass das protestantische Einheitsmodell der Leuenberger Konkordie zunehmend auch von katholischen Theologen als Zukunftsmodell vor allem in den ökumenischen Dialogen zwischen der Katholischen Kirche und den Reformationskirchen übernommen wird. Dies ist beispielsweise daran ablesbar, dass die heute oft verwendete Formel von der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ nicht mehr als ökumenische Zielbestimmung im katholischen Sinn dahingehend verstanden wird, dass die bisher kirchentrennenden Glaubensüberzeugungen in ökumenischen Gesprächen so aufgearbeitet werden, dass sie als in einer künftigen Einheit versöhnt betrachtet werden können. Vielmehr wird die ökumenische Formel der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ im protestantischen Sinn als Beschreibung des gegenwärtigen Zueinanders von bekenntnisverschiedenen Kirchen verstanden, die bereits als so versöhnt beurteilt werden, dass sie untereinander Kirchengemeinschaft vereinbaren und einander Abendmahlsgemeinschaft gewähren. Wenn die Formel der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ jedoch in dem Sinne verwendet wird, dass die verschiedenen Kirchen einander gegenseitig anerkennen, und zwar so wie sie sind, ohne dass ein Änderungsbedarf im Blick auf mehr Einheit bestünde, droht diese Formel auf jenes Phänomen hinauszulaufen, das Klaus Berger als „Ökumene des Status quo“ bezeichnet hat[17].

Ein deutlicher Einfluss des Leuenberger Einheitsmodells ist vor allem greifbar im Votum des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen „Gemeinsam am Tisch des Herrn“[18]. Wenn im Kontext einer „ökumenischen Hermeneutik“ als sensus fidelium konstatiert wird: „Vorrangig ist das gemeinsame Verständnis des Gehalts der eucharistischen Feier, nachrangig ist die Frage der spezifischen liturgischen Gestaltung sowie die Frage nach den angemessenen Leitungsdiensten“, dann tendiert das Votum des Ökumenischen Arbeitskreises ekklesiologisch in Richtung eines Verständnisses von Kirchengemeinschaft im Sinn von Leuenberg.[19]

Von daher kann es nicht erstaunen, dass im Votum im Blick auf das Verständnis der Eucharistie sogar die Kompromissformel von Leuenberg übernommen und als nunmehr gemeinsam aussagbare evangelisch-katholische Formel verstanden wird: „Jesus Christus schenkt sich uns in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheissendes Wort mit Brot und Wein.“[20] Über diese Kompromissformel, mit der sich die evangelischen Kirchen nur auf die Gegenwart Jesu Christi „mit Brot und Wein“ verständigen konnten, hat Walter Kardinal Kasper mit Recht geurteilt: „Sie lässt die für das katholische Verständnis der Realpräsenz entscheidenden Fragen leider offen, wenn sie diese nicht gar ausschliesst.“[21] Dasselbe Urteil muss auch über das Votum des Ökumenischen Arbeitskreises ausgesprochen werden, in dem auch das Verständnis der Eucharistie als Opfer, und zwar nicht nur als sacrificatio, sondern auch als oblatio, nur äusserst defizitär behandelt wird. Auf diesem Hintergrund wird dann auch im Votum die Konsequenz verständlich, dass die „wechselseitige Teilnahme an den Feiern von Abendmahl/Eucharistie in Achtung der je anderen liturgischen Traditionen“ nicht nur „theologisch begründet“, sondern auch „pastoral geboten“[22] sei.

 

(2) Einheit von Bekenntnis- und Kirchengemeinschaft in katholischer Sicht

Die Katholische Kirche und erst recht die Orthodoxen Kirchen halten demgegenüber an der bereits in der Alten Kirche lebendigen und in der gemeinsamen ost- und westkirchlichen Tradition und auch im Altprotestantismus gültigen Überzeugung von der Untrennbarkeit von Kirchengemeinschaft und Bekenntnisgemeinschaft und folglich auch von Eucharistiegemeinschaft fest und erblicken das Ziel der ökumenischen Bemühungen nicht in der so genannten Interkommunion, sondern in der Wiederherstellung der kirchlichen Communio, innerhalb derer dann auch die Gemeinschaft in der Eucharistie ihren Ort haben wird. Demgemäss wird das ökumenische Ziel in der sichtbaren Einheit im gemeinsamen Bekenntnis, in den gemeinsam gefeierten Sakramenten und in der Gemeinschaft der Ämter gesehen[23]. Da nach katholischem Verständnis die Kirche nicht nur die Eucharistie feiert, sondern von der Eucharistie her immer wieder neu aufgebaut wird, muss in der heutigen ökumenischen Situation um einen tragfähigen Konsens über ein sakramentales Kirchen- und Amtsverständnis gerungen werden, ohne welches das sakramentale Eucharistieverständnis in der Luft hängen würde.[24]

Es ist bis heute nicht ersichtlich, wie die in der Leuenberger Konkordie leitende ökumenische Zielvorstellung einer Gemeinschaft von selbständigen und bekenntnisverschiedenen Kirchen mit dem biblischen Bild der Kirche als des einen Leibes Christi versöhnt werden könnte. Ein solcher im heutigen Protestantismus favorisierter ekklesiologischer Pluralismus lässt sich auch mit den katholischen Prinzipien der Ökumene nicht vereinbaren[25], wie Kardinal Walter Kasper eindringlich betont hat. Er hat dieses spezifisch protestantische Modell mit der Kurzformel beurteilt: „Es besteht Kirchen- und Kommuniongemeinschaft, aber keine Kircheneinheit.“ Und er hat daraus die Konsequenz gezogen, dass, wenn von evangelischer Seite erwartet werde, dass die Katholische Kirche dieses Modell übernehme, sie mit einer Erwartung konfrontiert werde, „der sie von ihren eigenen Voraussetzungen her von vorne herein gar nicht entsprechen kann. Die katholische Kirche müsste zuerst evangelisch werden, wenn sie auf diese Zumutung eingehen wollte.“[26] In gleicher Sinnrichtung hat Papst Benedikt XVI. die diesbezügliche Herausforderung mit den klaren Worten ausgesprochen: „Die Suche nach der Wiederherstellung der Einheit unter den gespaltenen Christen darf sich … nicht auf die Anerkennung der jeweiligen Unterschiede und das Erreichen eines friedlichen Zusammenlebens beschränken; wonach wir uns sehnen, das ist die Einheit, für die Christus selbst gebetet hat und die ihrem Wesen gemäss sichtbar wird in der Gemeinschaft des Glaubens, der Sakramente, des Dienstes.“[27]

Es ist von daher zu hoffen, dass der unlängst begonnene ökumenische Dialog zwischen dem Dikasterium zur Förderung der Einheit der Christen und der Gemeinschaft Europäischer Kirchen in Europa (GEKE), dem die Aufgabe der Suche nach einem gemeinsameren Verständnis von Kirche und Kirchengemeinschaft anvertraut worden ist, mehr ökumenische Klarheit bringen wird. Für einen ökumenischen Konsens kann jedenfalls die der Leuenberger Konkordie zugrundeliegende fundamentale Unterscheidung zwischen unsichtbarem Grund und sichtbarer Gestalt von Kirche noch nicht genügen. In katholischer Sicht muss vielmehr auch danach gefragt werden, ob ein Konsens über ekklesiale Grundgestalten erreicht werden kann, wobei die Katholische Kirche eine wesentliche Grundgestalt im Bischofsamt in apostolischer Sukzession und nicht einfach in irgendeiner Form von Episkopé wahrnimmt.

 

c) Ökumenische Konzentration auf die Themen von Kirche, Eucharistie und Amt

Mit diesen Reflexionen dürfte vollends deutlich geworden sein, dass die verschiedenen Vorstellungen des Ziels der Ökumenischen Bewegung in unterschiedlichen konfessionellen Ekklesiologien begründet sind und dass folglich die ökumenische Klärung des Kirchen- und Einheitsverständnisses das zentrale Thema in den heutigen und künftigen ökumenischen Gesprächen sein muss. Diese Konsequenz legt sich auch deshalb nahe, da vor allem im ökumenischen Dialog mit den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften auf der einen Seite ein weitgehender Konsens über grundlegende Wahrheiten des Rechtfertigungsglaubens, der im 16. Jahrhundert zur Reformation und anschliessend zur Kirchenspaltung geführt hat, erreicht werden konnte, dass jedoch auf der anderen Seite die Konsequenzen dieses Konsenses für das Kirchenverständnis und die Amtsfrage noch nicht geklärt sind. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ selbst hat Fragen angezeigt, die weiterer Klärung bedürfen: „Sie betreffen unter anderem das Verhältnis von Wort Gottes und kirchlicher Lehre sowie die Lehre von der Kirche, von der Autorität in ihr, von ihrer Einheit, vom Amt und von den Sakramenten, schliesslich von der Beziehung zwischen Rechtfertigung und Sozialethik.“[28]

Seit der Unterzeichnung der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ in Augsburg im Jahre 1999 konnten in dieser Richtung zwar weitere ökumenische Konsense erzielt werden. Dennoch bündeln sich viele weiterhin verbleibende offene Fragen im genaueren Verständnis dessen, was Kirche ist, weshalb nun die ekklesiologischen Implikationen des bisher konsensual Erreichten zu den Haupttraktanden der ökumenischen Dialoge gehören müssen. Dies bedeutet konkret, dass vor allem ein tieferer Konsens über die grundlegenden Themen von Kirche, Eucharistie und Amt, und zwar in ihrer unlösbaren Zusammengehörigkeit, gefunden werden sollte. Die Bearbeitung dieser Themen würde gewiss einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg der ökumenischen Verständigung bilden.

Es darf dankbar festgestellt werden, dass sich bereits verschiedene nationale ökumenische Dialoge mit dieser Thematik beschäftigt haben. Der lutherisch-katholische Dialog in den Vereinigten Staaten von Amerika hat eine diesbezügliche „Declaration on the Way: Church, Ministry and Eucharist“ vorgelegt[29]; und auch der nationale Dialog in Finnland hat zu derselben Thematik die umfangreiche und erfreuliche Stellungnahme „Communion in Growth“ publiziert[30]. Auf der Grundlage dieser hilfreichen Vorarbeiten gilt es weiter zu gehen, um einen ökumenisch verbindlichen Konsens über die wichtigen Themen von Kirche, Eucharistie und Amt zu finden, der einmünden könnte in die Erarbeitung einer künftigen – der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ analogen – Gemeinsamen Erklärung über Kirche, Eucharistie und Amt.[31] Denn die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ hat den Beweis erbracht, dass für verbindliche Feststellungen von ökumenischen Konsensen Dokumente von ökumenischen Kommissionen noch nicht genügen können, wie verdienstvoll sie auch sind. Letztlich führen aber nur jene Texte in die Zukunft, die in den jeweiligen Kirchen rezipiert und von ihren Leitungen autoritativ angenommen werden. In diesem Sinne könnte die Ermöglichung einer gemeinsamen Stellungnahme zu Kirche, Eucharistie und Amt ein bedeutsamer Schritt auf die Einheit der Kirche hin sein, die das Ziel allen ökumenischen Bemühens auch in der Beziehung zwischen der Katholischen Kirche und den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ist und sein muss.

Einen ebenfalls hilfreichen Weg zu einem tieferen gemeinsamen Verständnis von Kirche und ihrer Einheit weist die Studie der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen mit dem Titel „Die Kirche. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision“ auf[32]. Mit ihr wird eine ökumenische Sicht von Wesen, Bestimmung und Auftrag der Kirche angestrebt, und sie darf deshalb als wertvolle ekklesiologische In-Via-Erklärung in ökumenischer Sicht eingeschätzt werden. Auch diese gewiss verdienstvolle Studie vermag allerdings die theologische Verständigung bei den meisten bisher kontroversen ekklesiologischen und amtstheologischen Themen noch nicht über die Formulierung von weiterhin offenen Fragen hinauszuführen. In dieser Richtung muss deshalb weiter gearbeitet werden, um Wege der Versöhnung zwischen den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften zu finden.

Bei der Suche nach den Wegen, auf denen die Einheit der Kirche wiederhergestellt werden kann, müssen auch jene Faktoren sensibel wahrgenommen werden, die in der Geschichte zu Kirchenspaltungen und damit zum Verlust der Einheit geführt haben. Die Anlässe und Gründe für die Spaltungen im Osten bereits im 5. Jahrhundert und zwischen Ost und West im 11. Jahrhundert sind sehr verschieden von denjenigen, die zu den Spaltungen im Westen im 16. Jahrhundert geführt haben. Nochmals anders sind die Anlässe und Ursachen für das Entstehen von charismatischen, evangelikalen und pentekostalen Bewegungen im Weltprotestantismus im 19. Jahrhundert zu beurteilen. Da in diesen historischen Unterschieden auch ein wesentlicher Grund für die Vielfalt der gegenwärtig in der Ökumenischen Bewegung vorhandenen Einheitsvorstellungen liegt, müssen auch verschiedene Wege gesucht werden, wie die in der Geschichte verloren gegangene Einheit der Kirche wieder gefunden und hergestellt werden kann.

 

4. Suche nach Einheit im Gegenwind des pluralistischen Zeitgeistes

Beim Bemühen um die Wiedergewinnung der Einheit der Kirche steht die Ökumene heute vor einer weiteren grossen Herausforderung, die man nicht verschweigen darf. Sie ist im heute weithin selbstverständlich gewordenen pluralistischen und relativistischen Zeitgeist einem starken Gegenwind ausgesetzt. Im Unterschied zur Tradition des christlichen Denkens, in der gemäss dem Axiom „ens et unum convertuntur“ die Einheit als Sinn und Grund des Seins überhaupt betrachtet worden ist, ist demgegenüber heute der Pluralismus zum entscheidenden Grundbegriff bei der Wahrnehmung der so genannten postmodernen Wirklichkeitserfahrung geworden.

Postmoderne bedeutet gemäss dem berühmt gewordenen Aufsatz von Jean-Francois Lyotard das prinzipielle Zulassen und Favorisieren des Plural und das ebenso grundsätzliche Verdächtigen von jedem Singular. Die Grundüberzeugung der postmodernen Mentalität besagt, dass man hinter die Pluralität der Wirklichkeit denkerisch nicht zurückgehen könne und auch nicht dürfe, wenn man sich nicht dem Verdacht eines totalitären Denkens aussetzen wolle, dass vielmehr die Pluralität die einzige Weise sei, in der uns das Ganze der Wirklichkeit, wenn überhaupt, gegeben sei.[33] Die prinzipielle Verabschiedung des Einheitsdenkens ist charakteristisch für den Postmodernismus, der „nicht nur die Akzeptanz und Toleranz von Pluralität“ ist, sondern die „grundlegende Option für den Pluralismus“[34]. In der postmodernen Mentalität erscheint jede Suche nach Einheit als vormodern und antiquiert.

 

a) Einheit der Kirche oder ekklesiologischer Pluralismus?

Hinzu kommt erschwerend, dass die postmoderne Mentalität auch im ökumenischen Denken der Gegenwart als wirksam festgestellt werden muss, und zwar in einem weithin plausibel gewordenen ekklesiologischen Pluralismus, demgemäss gerade die Vielzahl und Vielfalt von Kirchen als positive Realität betrachtet wird und jede Suche nach der Wiedergewinnung der Einheit der Kirche als verdächtig erscheint. Es macht den Anschein, dass man sich mit dem geschichtlich gewordenen und vorhandenen Pluralismus von Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften weithin nicht nur abgefunden hat, sondern ihn auch grundsätzlich begrüsst, so dass die ökumenische Suche nach der Wiederherstellung der Einheit der Kirche als unrealistisch erscheint und als nicht wünschenswert eingeschätzt wird.

Diese Tendenz ist vor allem bei den dominierenden Strömungen im liberalen Protestantismus von heute festzustellen. Er geht weithin von der Überzeugung aus, mit der Reformation und der anschliessenden Spaltungen im 16. Jahrhundert habe endlich jene Pluralisierung der lateinischen Christenheit begonnen, die in der permanenten Konkurrenz von selbständigen Konfessionskirchen Gestalt gefunden, in der Form des Protestantismus das Christentum modernitätsverträglich gemacht habe und nicht mit einer neuen Einheitssuche wieder in Frage gestellt werden dürfe. Die Reformation und die anschliessenden Kirchenspaltungen werden dann nicht mehr als Schuld und Tragik, sondern allein als Erfolg und Fortschritt betrachtet. Der evangelische Kirchenhistoriker Christoph Markschies hat jedenfalls darauf aufmerksam gemacht, dass man sich in der „Liberalen Theologie“, die vor allem an deutschsprachigen evangelisch-theologischen Fakultäten weit verbreitet sei, mit der Ökumenischen Bewegung schwer tue, „da dort vielfach das reformatorische Christentum für einen kategorial vom übrigen Christentum geschiedenen, neuzeitkonformen eigenen Typus der Religion gehalten wird und nicht – wie häufig in der <Offenbarungstheologie> - für denjenigen Teil der einen, heiligen und allgemeinen Kirche, der durch die Reformation gegangen ist, aber durch vielfältige Gemeinsamkeit und theologische Traditionslinien mit dieser una sancta catholica ecclesia verbunden ist“[35].

Nicht selten wird dabei versucht, den Verzicht auf die Suche nach der Wiederherstellung der Einheit der Kirche mit der Heiligen Schrift theologisch zu begründen, indem beispielsweise darauf verwiesen wird, bereits der irdische Jesus habe es im damaligen Gottesvolk mit sehr verschiedenen Strömungen und Gruppierungen, mit Pharisäern und Sadduzäern, mit Essenern und Zeloten, mit Samaritanern und andern zu tun gehabt. Dieser gewiss richtigen Feststellung ist allerdings entgegenzuhalten, dass sich Jesus mit dem damaligen verwundeten und zerrissenen Gottesvolk gerade nicht abgefunden, sondern seine Sendung darin gesehen hat, das Gottesvolk aus seinen Spaltungen heraus- und zur Einheit zusammenzuführen. Das grundlegende Geschehen im ganzen Auftreten Jesu muss man mit dem katholischen Neutestamentler Gerhard Lohfink in der „Sammlung des Gottesvolkes“ sehen, für die die Berufung und Konstituierung der Zwölf das deutlichste Zeichen gewesen ist: „Die Jünger sollen Jesus nicht nur bei seiner Sammlung des Gottesvolkes helfen, sondern sie sollen selber ein schon realisiertes Stück der Sammlung und Einigung Israels sein. Sie sind die Mitte, gleichsam das Nervenzentrum des zu erneuernden Gottesvolkes.“[36] Auf diesem weiteren Hintergrund leuchtet erst recht die Bedeutung des Hohepriesterlichen Gebetes Jesu ein, in dem er um die Einheit seiner Jünger gebetet hat.[37]

Ein ähnliches Fragezeichen ist auch hinter die immer wiederholte These des evangelischen Neutestamentlers Ernst Käsemann zu setzen, mit der er auch die grossen Kirchenspaltungen zu legitimieren versucht hat, dass nämlich der neutestamentliche Kanon nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen begründe.[38] Gegen diese These ist jedoch vor allem geltend zu machen, dass es einem anachronistischen Unterfangen gleichkommt, wenn man die heutige, in der Geschichte gewordene Situation von getrennten und nebeneinander lebenden konfessionell geprägten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ins Neue Testament zurückträgt, weshalb Walter Kardinal Kasper mit Recht mit Blick auf die These Käsemanns geurteilt hat: „Für Paulus wären ein solches Nebeneinander und ein Pluralismus von verschiedenen und unterschiedlichen Konfessionskirchen eine ganz und gar unerträgliche Vorstellung.“[39] Denn nicht die Kanonisierung des Pluralismus von Kirchen bis hin zu den Trennungen, sondern die Suche nach der Einheit der Kirche hat in der Heiligen Schrift ihr Fundament.

Trotz dieser theologischen Einwände wird die These Käsemanns auch heute wiederholt aufgegriffen, wenn sich beispielsweise der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in seinem Grundlagentext zum Reformationsgedenken im Jahre 2017 auf sie beruft, um die reformatorischen Kirchen als „Teil der legitimen, weil schrift-konformen Pluralisierung der christlichen Kirchen“ zu verstehen und sie als willkommene Fernwirkung der Reformation im 16. Jahrhundert zu rühmen[40]. Auch die wissenschaftlich Leitenden des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen, Volker Leppin und Dorothea Sattler, bekennen offen, dass in der gegenwärtigen Zusammensetzung dieses Ökumenischen Arbeitskreises die Zahl der Theologen und Theologinnen gewachsen ist, „die die Pluralität der Kirchen eher als Anlass zur Wertschätzung denn als Grund zur Besorgnis wahrnehmen“[41]. Die Auswirkung dieser Grundhaltung ist im neuen Dokument „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ mit Händen zu greifen.

 

b) Unsichtbare oder sichtbare Einheit der Kirche?

Neuerdings wird nicht nur der Gedanke der wiederzugewinnenden Einheit der Kirche, sondern auch die Betonung ihrer Sichtbarkeit in Frage gestellt, indem behauptet wird, in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils sei nirgends von einer „sichtbaren Einheit“, sondern von einer „vollen Einheit“ die Rede, es handle sich bei dieser Formel deshalb um eine „Verschiebung der Grenzen der Kircheneinheit“ oder gar um eine „unbemerkte? leichtfertige?“ Akzentverschiebung auf katholischer Seite.[42] Dagegen ist geltend zu machen, dass erstens auch das Konzil die Rede von der sichtbaren Einheit durchaus kennt, dass mit ihr zweitens auch in der Verfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen das Ziel der Ökumene umschrieben wird und dass drittens auch der Ökumenische Studienausschuss der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands eine eigene Studie zum Verständnis der sichtbaren Einheit in lutherischer Sicht veröffentlicht hat[43].

Zudem ist die Frage zu bedenken, welche Formel denn verbindlicher und zugleich verständlicher ist: die Formel von der sichtbaren oder von der vollen Einheit. Und grundsätzlich stellt sich die Frage, ob eine Einheit der Kirche überhaupt denkbar ist, die nicht sichtbar wäre. Wenn jedenfalls Jesus seine Bitte um die Einheit der Jünger mit der spezifischen Intention verbindet, „damit die Welt glaubt, dass Du mich gesandt hast“ (Joh 17, 21), dann bringt er damit seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die Wahrheit seiner Sendung für die Menschen durch die Einheit der Jünger sichtbar und damit Er selbst „legitimiert“ wird, wie Papst Benedikt XVI. in seiner Auslegung des Hohepriesterlichen Gebetes Jesu eindringlich betont hat: „Es wird sichtbar, dass er wirklich der Sohn ist.“[44]

Es versteht sich von daher von selbst, dass in den ökumenischen Gesprächen weiter diskutiert werden muss, worin die Sichtbarkeit der Einheit besteht und wie viel Sichtbarkeit für die Einheit der Kirche notwendig und deshalb „satis“ ist. Wenn aber die Sichtbarkeit der Kirche und ihrer Einheit überhaupt in Frage gestellt wird, dann würde auf katholischer Seite eine Position übernommen, die in der protestantischen Tradition geschichtswirksam geworden ist, und zwar dahingehend, dass zwischen der unsichtbaren Kirche Jesu Christi und den sichtbaren Konfessionen unterschieden wird. Diese Position wird heute auch von leidenschaftlichen Verfechtern der Leuenberger Konkordie vertreten. Da es beispielsweise für den evangelischen Wiener Theologen Ulrich H. J. Körner keine andere Einheit als die vom Heiligen Geist faktisch gewährte geben kann, muss in seiner Sicht die Ökumenische Bewegung die bisherige ekklesiozentrische Perspektive einer sichtbaren Kirchen-, Lehr- und Amtseinheit aufgeben, was zugleich impliziert, die Konsens-Ökumene durch eine Differenz-Ökumene abzulösen.[45]

Eine gewiss weniger schwerwiegende, aber doch analoge Rückfrage ist auch an den „Bericht über Kirche und Kirchengemeinschaft“ zu stellen, der den Dialog der Katholischen Kirche mit der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) vorbereiten sollte.[46] Im Mittelpunkt dieses Berichts steht die für die Leuenberger Konkordie wegleitende Unterscheidung zwischen dem unsichtbaren, aber elementaren Grund der Kirche und ihrer sichtbaren und wandelbaren Gestalt, ohne die in katholischer Sicht notwendige Frage explizit zu thematisieren, ob es für die Einheit der Kirche auch ekklesiale Grundgestalten gibt und geben muss, die selbstredend sichtbar sein müssen. Mit Wolfgang Thönissen teile ich deshalb die Überzeugung[47], dass wir heute vor der Entscheidung stehen, ob als Basis für die weiteren ökumenischen Gespräche mit den reformatorischen Kirchen das Verbindungsmodell, das die Leuenberger Kirchengemeinschaft darstellt, dienen soll oder das sakramental verstandene Konzept einer sichtbaren Einheit, wie es im Dokument des lutherisch-katholischen Dialogs in Finnland vorgeschlagen wird, in dem „im weiteren Kontext unserer gemeinsamen Überzeugungen von Amt und der Sakramentalität der Kirche“ ein Konsens über Fragen zum Ausdruck gebracht wird, „in denen eine Übereinstimmung unverzichtbar für die Einheit ist“: „Die Grundfrage ist die nach einer konkreten Struktur einer sakramental verstandenen Ekklesiologie.“[48]

Dass man an der Frage der Sichtbarkeit der Kirche und ihrer Einheit zumal in den ökumenischen Gesprächen mit der aus der Reformation hervorgegangenen kirchlichen Gemeinschaften nicht vorbeikommt, dafür ist der bedeutende reformierte Theologe Karl Barth ein gewiss unverdächtiger Zeuge. Auch er identifiziert zwar das Handeln Gottes mit dem Wirken des Heiligen Geistes, aber er bindet dieses Wirken an das inkarnatorische Prinzip und damit auch an das Kriterium der sichtbaren Einheit: „Man soll die Vielheit der Kirchen nicht erklären wollen als ein notwendiges Merkmal der sichtbaren, empirischen im Gegensatz zu der unsichtbaren, idealen, wesentlichen Kirche. Man soll dies darum nicht tun, weil diese ganze Unterscheidung dem Neuen Testament fremd ist… Es gibt keine Flucht von der sichtbaren zur unsichtbaren Kirche. Wir können also die Frage nach der Einheit der Kirche nicht dadurch zum Schweigen bringen, dass wir auf die Einheit der unsichtbaren oder wesentlichen Kirche verweisen… Nur wenn wir platonisch spekulieren wollten, statt auf Christus zu hören, könnten wir das leugnen… Man soll die Vielheit der Kirchen überhaupt nicht erklären wollen. Man soll mit ihnen umgehen, wie man mit der eigenen und fremden Sünde umgeht.“[49] Es würde den ökumenischen Dialogen gewiss gut tun, würde dieses starke Wort Karl Barths bereits aus den dreissiger Jahren erneut intensiv bedacht werden.

 

5. Wachhalten der Suche nach Einheit

Mit diesen Überlegungen sollte deutlich geworden sein, dass die ökumenische Suche nach der Wiederherstellung der Einheit der Kirche heute in einem sehr gewandelten geistesgeschichtlichen und theologischen Denkkontext stattfindet, und zwar vor allem dahingehend, dass die Vielheit und Vielfalt der Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften nicht mehr, jedenfalls nicht mehr primär, im Blick auf die Spaltungen in der Geschichte und die wieder zu gewinnende Einheit der Kirche betrachtet werden, sondern als geschichtlich gewachsene Bereicherungen des Kircheseins. Von daher werden immer stärker grundlegende Bedenken gegenüber einem Einheitsverständnis angemeldet, bei dem die Vielgestalt von Kirchen, selbst wenn sie durch Spaltungen geschichtlich geworden ist, nicht in erster Linie als Reichtum wahrgenommen wird.

In der ökumenischen Situation heute sind wir von daher herausgefordert, in neuer und zugleich ursprünglicher Weise nach der Einheit der Kirche zu fragen. Denn ohne Suche nach Einheit würde sich der christliche Glaube selbst beschädigen, wie dies der Brief des Apostels Paulus an die Epheser unmissverständlich zum Ausdruck bringt, der ein leidenschaftlicher geistlicher Appell an alle Getauften ist, die Einheit in der Kirche und die Einheit der Kirche zu wahren[50]: „Ein Leib und ein Geist, wie euch durch eure Berufung auch eine gemeinsame Hoffnung gegeben ist: ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alle und in allem ist“ (Eph 4, 4-6). Wie wichtig für Paulus die Kirche und ihre Einheit ist, wird dabei daraus ersichtlich, dass er sie in der Heilsgeschichte Gottes mit seiner Menschheit begründet sieht und dass die Einheit der Kirche und ihre Bewahrung aus dem Bekenntnis zu Jesus Christus als dem einen Herrn der Kirche folgt.

Wie Paulus bringen die Heilige Schrift überhaupt und die christliche Tradition die intime Zusammengehörigkeit des Bekenntnisses zu Jesus Christus als dem einen Herrn der Kirche und des Bekenntnisses zu ihrer Einheit dadurch zum Ausdruck, dass die Kirche als Leib bezeichnet und Christus als Haupt geglaubt wird. Dieses Bild von Leib und Haupt gilt es in zweifacher Richtung radikal ernst zu nehmen: Auf der einen Seite werden Christus und Kirche voneinander unterschieden. Denn Christus ist das Haupt seines Leibes. Wie der Leib ohne das Haupt kein Leib mehr ist, sondern ein Leichnam, so verkommt die Kirche zu einer Karikatur ihrer selbst, wenn in ihrem Mittelpunkt nicht Christus als ihr Haupt steht. Auf der anderen Seite werden Christus und die Kirche auf das Engste miteinander verbunden. Denn Christus als Haupt seiner Kirche hat einen sichtbaren Leib und will in seinem Leib gegenwärtig sein. Dann aber kann es nur eine Kirche geben. Denn Christus hat nicht viele Leiber, sondern er verbindet sich mit dem einen Leib, seiner Kirche. Oder mit einem anderen Bild ausgedrückt: Wenn die Beziehung Jesu Christi zu seiner Kirche so eng ist, dass man von einem Verhältnis von Bräutigam und Braut sprechen darf, dann drängt sich die glaubenslogische Konsequenz auf, dass Christus auf keinen Fall polygam, sondern monogam ist und treu zu seiner einen Braut steht.

Die Heilige Schrift und die Tradition der Kirche bringen mit diesen Bildern zum Ausdruck, dass die Einheit eine Grundkategorie des christlichen Glaubens und kirchlichen Lebens ist und bleiben muss und deshalb so elementar zum Kirchesein der Kirche gehört, dass der christliche Glaube ohne Einheit und ohne Suche nach Einheit dort, wo sie bedroht oder gar verloren ist, sich selbst in Frage stellen würde. Die christliche Ökumene ist deshalb berufen und verpflichtet, den Mut und die Demut aufzubringen, dem noch immer bestehenden Ärgernis einer gespaltenen Christenheit selbstkritisch in die Augen zu schauen und in liebenswürdiger Hartnäckigkeit die Suche nach der Wiedergewinnung der Einheit wach zu halten.

Mit dieser emphatischen Betonung der Einheit wird kein Gegensatz zur Vielheit postuliert und konstruiert, sofern sie im Glauben versöhnt ist. In einer zu versöhnenden Vielheit kann Einheit dann gesucht werden, wenn die Spaltungen entgiftet werden, in ihnen das Fruchtbare angenommen und von der Verschiedenheit das Positive empfangen wird, und zwar im Licht des trinitarischen Liebesgeheimnisses, in dem Liebe legitime Unterschiede nicht auslöscht, sondern in einer höheren Einheit zusammenbringt und in dem deshalb Einheit in Vielheit und Vielheit in Einheit vor unsere Augen tritt. Wie Papst Franziskus immer wieder in Erinnerung ruft[51], kann solche Einheit in Vielheit nur vom Heiligen Geist geschenkt werden. Im Unterschied zu uns Menschen, die stets in der Versuchung stehen, auf der einen Seite Verschiedenheit erzeugen zu wollen und sich dabei doch in Partikularismen und Exklusivismen zu verschliessen und Spaltungen zu schaffen, und auf der anderen Seite nach menschlichen Vorstellungen die Einheit herzustellen und dabei doch Vereinheitlichung und Uniformität herbeizuführen, ist es der Heilige Geist, der Vielheit und Verschiedenheit hervorruft und darin zugleich Einheit wirkt. Oder mit Blaise Pascal gesprochen: Einheit, die nicht von Vielheit abhängt, ist Diktatur; Vielheit, die nicht von Einheit abhängt, ist Anarchie. Auch in ökumenischer Hinsicht muss immer wieder eine gesunde Mitte zwischen Diktatur und Anarchie gesucht und gefunden werden.

 

6. Aktuelle Herausforderungen zur Erneuerung der Suche nach Einheit

Die sensible Balance zwischen Einheit und Vielheit, wie sie im trinitarischen Gottesgeheimnis anschaubar ist, scheint mir in der heutigen ökumenischen Situation so sehr in die Richtung eines einseitigen Lobes der Vielfalt zu tendieren, dass die Einheit aus dem Blick zu geraten droht.[52] Um ein gesundes Gleichgewicht wiederherzustellen, ist heute eine Rückbesinnung auf die Einheit angebracht. Dazu herausgefordert sind wir zumal angesichts von zwei bedeutenden ökumenischen Anlässen, die uns in der unmittelbaren Zukunft bevorstehen werden.

Im Jahre 2025 wird die gesamte Christenheit den 1700. Jahrestag des Ersten Ökumenischen Konzils in der Geschichte der Kirche begehen, das im Jahre 325 in Nicaea stattgefunden und das Glaubensbekenntnis verkündet hat, dass Jesus Christus als Sohn Gottes „wesensgleich mit dem Vater“ ist. Da das Konzil in jenem Zeitraum stattgefunden hat, in dem die Kirche noch nicht von den zahlreichen späteren Spaltungen verwundet gewesen ist, verbindet das Bekenntnis von Nicaea auch heute noch alle christlichen Kirchen und ist deshalb in seiner ökumenischen Bedeutung nicht zu überschätzen. Denn für die ökumenische Wiedergewinnung der Einheit der Kirche ist die Übereinstimmung im wesentlichen Inhalt des Glaubens erforderlich, und zwar nicht nur zwischen den in der Gegenwart bestehenden Kirchen, sondern auch die Übereinstimmung mit der Kirche der Vergangenheit und vor allem mit ihrem apostolischen Ursprung. Das Konzil von Nicaea ist auch deshalb ökumenisch bedeutsam, weil es die Art und Weise dokumentiert, wie im damaligen Streit um das orthodoxe Christusbekenntnis die Kirche auf einem Konzil synodal beraten und entschieden hat. Das 1700-Jahr-Jubiläum wird von daher eine günstige Gelegenheit sein, dieses Konzils in ökumenischer Gemeinschaft zu gedenken und sich seines christologischen Bekenntnisses erneut zu vergewissern, in dem die Einheit im Glauben begründet ist.[53]

Im Jahre 2030 werden wir den 500. Jahrestag des Augsburger Reichstages und der Übergabe des Augsburger Bekenntnisses an Kaiser Karl V. am 25. Juni 1530 begehen. Die evangelischen Fürsten und Reichsstädte haben damals diese Übergabe mit der Intention vollzogen, dass es den katholischen Glauben bezeugen will, wie beim Abschluss des ersten Teils ausdrücklich festgehalten wird, „dass nichts darin vorhanden ist, was abweicht von der Heiligen Schrift und von der allgemeinen  und von der römischen Kirche, wie wir sie aus den Kirchenschriftstellern kennen“. Da das Ziel der Bewahrung der Einheit damals nicht erreicht werden konnte, ist die Confessio Augustana später zur grundlegenden Bekenntnisschrift der Lutheraner geworden. Ursprünglich war sie aber kein Dokument der Spaltung, sondern des entschiedenen Willens zur Versöhnung und zur Bewahrung der Einheit. Der ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen hat mit Recht geurteilt: „Möglicherweise waren die Kirchen der abendländischen Christenheit in der Tat beim Reichstag zu Augsburg 1530 einander so nahe wie später nie wieder.“[54] Wenn man diese ökumenische Bedeutung bedenkt, kann man nur hoffen, dass der 500. Gedenktag des Reichstags zu Augsburg und der damals verkündeten Confessio Augustana ihrer Intention gemäss in ökumenischer Gemeinschaft begangen werden und ein erneuter Impuls sein wird, die in der Reformationszeit verlorene Einheit wieder zu suchen und zu finden.[55]

Beide Gedenktage werden willkommene Anlässe sein, im Rückblick in die Geschichte neue Kraft und Motivation für den ökumenischen Weg heute und in Zukunft zu gewinnen und in ökumenischer Leidenschaft uns erneut der Frage zu widmen, welche Einheit wir suchen. Dabei sind wir gut beraten, uns stets dessen bewusst zu sein, dass bei allen unseren menschlichen Bemühungen die Einheit, wie Papst Franziskus immer wieder betont, „in erster Linie ein Geschenk Gottes ist, um das wir unablässig beten müssen“, und dass unsere ökumenisch wahrzunehmende Verantwortung darin besteht, „die Bedingungen vorzubereiten, das Terrain des Herzens zu kultivieren, damit diese ausserordentliche Gnade angenommen werde“[56].

 

 

[1]  W. Pannenberg, Das Glaubensbekenntnis. Ausgelegt und verantwortet vor den Fragen der Gegenwart (Hamburg 1972) 153.
[2]  Unitatis redintegratio, Nr. 1.
[3]  Verfassung und Satzungen des Ökumenischen Rates der Kirchen, in: H. Krüger / W. Müller-Römheld (Hrsg.), Bericht aus Nairobi 1975. Ergebnisse – Erlebnisse – Ereignisse. Offizieller Bericht der fünften Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (Frankfurt a. M. 1976) 327-350, zit. 327.
[4]  Gemeinsame Römisch-katholische / Evangelisch-lutherische Kommission, Wege zur Gemeinschaft, in: H. Meyer / H. J. Urban / L. Vischer (Hrsg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung. Band 1: 1931-1982 (Paderborn – Frankfurt a. M. 1983) 296-322, zit. 297.
[5]  Vgl. K. Kardinal Koch, Wohin geht die Ökumene? Rückblicke – Einblicke – Ausblicke (Regensburg 2021), bes. 255-269: Mangelnder Konsens über das Ziel der Ökumene.
[6]  P.-W. Scheele, Ökumene – wohin? Unterschiedliche Konzepte kirchlicher Einheit im Vergleich, in: St. Ley / I. Proft / M. Schulze (Hrsg.), Welt vor Gott. Für George Augustin (Freiburg i. Br. 2016) 165-179, zit. 165.
[7]  Th. Dieter, Ökumenische Hermeneutik – Einblicke und Ausblicke, in: Catholica 77  (2022) 80-93, zit. 89.  Aus dieser klaren Diagnose hat Dieter im Blick auf die heutige Situation der Ökumene die ebenso klare Konsequenz gezogen: „Die Kirchen haben im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Ökumene, das Ägypten der konfessionellen Konflikte verlassen, aber sie sind noch nicht im gelobten Land der Gemeinschaft angekommen. In der Wüste ist die Versuchung gross, sich nach den Fleischtöpfen der konfessionellen Eindeutigkeit zu sehnen“ (91).
[8]  Ch. Markschies, Neue Chance für die Ökumene? in: Nach der Glaubensspaltung. Zur Zukunft des Christentums = Herder Korrespondenz Spezial (Freiburg i. Br. 2016) 17-21, zit. 20.
[9]  Vgl. G. Hintzen / W. Thönissen, Kirchengemeinschaft möglich. Einheitsverständnis und Einheitskonzepte in der Diskussion (Paderborn 2001); F. W. Graf / D. Korsch (Hrsg.), Jenseits der Einheit. Protestantische Ansichten der Ökumene (Hannover 2001).
[10]  K. Raiser, Ökumene im Übergang. Paradigmenwechsel in der ökumenischen Bewegung (München 1989) 120.
[11]  Ebda. 119f.
[12]  Symptomatisch für diese Stossrichtung ist beispielsweise der Vortrag von Bischöfin Kirsten Fehrs über das Evangelische Ökumeneverständnis, in: MdKl 2022: (73/4), 176-181. Einleitend behauptet sie, meine „jüngeren Einlassungen“ würden „Signale“ senden, „die nicht nur Mut machen“. Dabei bezieht sie sich auf meine Aussage: „Heute stehen wir vor der Schwierigkeit, dass wir noch immer keine gemeinsame Sicht des Ziels der Ökumene haben… Jede Kirche hat ihre eigene Vorstellung von der Einheit ihrer Kirche und steht deshalb in der Versuchung, diese Vorstellung auch auf das Ziel  der Ökumene zu übertragen.“ Aufschlussreich ist dann freilich, dass Bischöfin Fehrs´ Ausführungen durchgehend meine Sicht nicht nur bestätigen, sondern mit der gewagten These sogar historisch-theologisch untermauern: „Am Anfang war Verschiedenheit. Oder besser gesagt: Am Anfang ist Verschiedenheit“ (177).
[13]  Mit dieser Titelformulierung wird nicht unterstellt, dass es sich bei der Gegenüberstellung von Einheit der Kirche und Kirchengemeinschaft um eine strikte Alternative handeln würde. Mit dem Fragezeichen wird vielmehr die Frage artikuliert, ob auch in katholischer Sicht Einheit der Kirche und Kirchengemeinschaft miteinander verbunden sein können. Vgl. J. Freitag, Einheit und/oder Kirchengemeinschaft ? in: Catholica 77 (2022) 106-116.  Es stellt sich allerdings erst recht die Frage, was jeweils genauer unter Einheit der Kirche und Kirchengemeinschaft zu verstehen ist. Im vorliegenden Zusammenhang steht das Konzept von Kirchengemeinschaft zur Diskussion, das von der Leuenberger Kirchengemeinschaft vertreten wird und das durchaus markante Unterschiede zum katholischen Verständnis aufweist.
[14]  Vgl. H. Meyer, Zur Entstehung und Bedeutung des Konzeptes „Kirchengemeinschaft“. Eine historische Skizze aus evangelischer Sicht, in: J. Schreiner / K. Wittstadt (Hrsg.), Communio Sanctorum. Einheit der Christen – Einheit der Kirche (Würzburg 1988) 204-230.
[15]  W. Hüffmeier, Kirchliche Einheit als Kirchengemeinschaft – Das Leuenberger Modell, in: F. W. Graf / D. Korsch (Hrsg.), Jenseits der Einheit. Protestantische Ansichten der Ökumene (Hannover 2001) 35-54, zit. 54.
[16]  Vgl. U. H. J. Körtner, Die Leuenberger Konkordie als ökumenisches Modell, in: M. Bünker / B. Jaeger (Hrsg.), 40 Jahre Leuenberger Konkordie. Dokumentationsband zum Jubiläumsjahr 2013 der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (Wien 2014) 203-226.
[17]  K. Berger, Glaubensspaltung ist Gottesverrat. Wege aus der zerrissenen Christenheit (München 2006) 234.
[18]  Gemeinsam am Tisch des Herrn. Ein Votum des ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen. Hrsg. von D. Sattler und V. Leppin (Freiburg i. Br. – Göttingen 2020).
[19]  Vgl. K. Kardinal Koch, „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ – Bereits heute? Rückfragen an das Votum des Ökumenischen Arbeitskreises, in: M. Graulich (Hrsg.),  Alles gleich gültig? Theologische Differenzierungen zum Votum „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ (Freiburg i. Br. 2022) 35-70.
[20]  Leuenberger Konkordie 15, 18.
[21]  W. Kardinal Kasper, Mysterium fidei. Die Eucharistie als Mitte und Höhepunkt des christlichen Lebens, in: Ders., Erneuerung aus dem Ursprung. Theologie, Christologie, Eucharistie (Ostfildern 2021) 99-161, zit. 156.
[22]  Gemeinsam am Tisch des Herrn (vgl. Anm. 19) 82.
[23]  Dass diese katholische Vorstellung von der sichtbaren und vollen Einheit der Kirche mit dem evangelischen Verständnis von Kirchengemeinschaft “nicht kompatibel” ist, hat die EKD bereits in ihrem “Votum zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen” im Jahre 2001 festgestellt und dieses Urteil konkret auch damit begründet, “dass die Notwendigkeit und Gestalt des <Petrusamtes> und damit des Primats des Papstes, das Verständnis der apostolischen Sukzession, die Nichtzulassung von Frauen zum ordinierten Amt und nicht zuletzt der Rang des Kirchenrechts in der römisch-katholischen Kirche Sachverhalte sind, denen evangelischerseits widersprochen werden muss” (Nr. 2.3). Über dieses Votum der EKD hat Kardinal Walter Kasper damals mit Recht geurteilt, es sei “so schroff, aber auch so undifferenziert und ohne Berücksichtigung von Dialogergebnissen, dass <Dominus Iesus> demgegenüber geradezu als ein freundlicher ökumenischer Text erscheint.” Vgl. W. Kasper, Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe. Ökumenische Perspektiven für die Zukunft, in: Ders., Wege zur Einheit der Christen. Schriften zur Ökumene I = Gesammelte Schriften. Band 14 (Freiburg i. Br. 2012) 379-397, zit. 391.[24]  Vgl. K. Koch, Die Kirche feiert Eucharistie – Die Eucharistie baut Kirche auf, in: G. Augustin (Hrsg.), Eucharistie und Erneuerung. Aufbruch aus der Mitte des Glaubens (Freiburg i. Br. 2021) 11-35.; Ders., Eucharistie als elementares Sakrament des Glaubens, in: M. Graulich / K.-H. Menke (Hrsg.), Fides incarnata. Festschrift zum 65. Geburtstag von Rainer Maria Cardinal Woelki (Freiburg i. Br. 2021) 93-113.
[25]  Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Zielmodell der Leuenberger Konkordie vgl. K. Koch, Kirchengemeinschaft oder Einheit der Kirche? Zum Ringen um eine angemessene Zielvorstellung der Ökumene in; P. Walter u.a. (Hrsg.), Kirche in ökumenischer Perspektive. Festschrift für Kardinal Walter Kasper (Freiburg i. Br. 2003) 135-162.
[26]  W. Kasper, Ökumenische Stolpersteine, in: Ders., Wege zur Einheit der Christen. Schriften zur Ökumene I = Gesammelte Schriften. Band 14 (Freiburg i. Br. 2012) 453-474, zit. 469.
[27]  Benedikt XVI., Predigt in der Vesper zum Abschluss der Gebetswoche für die Einheit der Christen am 25. Januar 2011.
[28]  Nr. 43.
[29]  Bishop´s Committee for Ecumenical und Interreligious Affairs – United States Conference of Catholic Bishops and Evangelical Lutheran Church in America, Declaration on the Way: Church, Ministry and Eucharist (Minneapolis 2015).
[30]  Communion in Growth, Declaration on  the Church, Eucharist and Ministry. A Report from the Lutheran-Catholic Dialogue Commission for Finland (Helsinki 2017).
[31]  Vgl. K. Koch, Auf dem Weg der Kirchengemeinschaft. Welche Chance hat eine gemeinsame Erklärung zu Kirche, Eucharistie und Amt, in: Catholica 69 (2015) 77-94.
[32]  Die Kirche. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision. Eine Studie der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) (Gütersloh – Paderborn 2014).
[33]  Vgl. W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne (Weinheim 1987).
[34]  W. Kasper, Die Kirche angesichts der Herausforderungen der Postmoderne, in: Ders., Theologie und Kirche. Band 2 (Mainz 1999) 249-264, bes. 252-255: Absage an das Einheitspostulat: Der pluralistische Grundzug der Postmoderne, zit. 253.
[35]  Ch. Markschies, Aufbruch oder Katerstimmung? Zur Lage nach dem Reformationsjubiläum (Hamburg 2017) 67.
[36]  G. Lohfink, Jesus und das zerrissene Gottesvolk, in: Ders., Gegen die Verharmlosung Jesu. Reden über Jesus und die Kirche (Freiburg i. Br. 2013) 156-177, zit. 167.
[37]  Vgl. K. Kardinal Koch, Christliche Ökumene im Licht des Betens Jesu.  „Jesus von Nazareth“ und die ökumenische Sendung, in: J.-H. Tück (Hrsg.), Passion aus Liebe. Das Jesus-Buch des Papstes in der Diskussion (Ostfildern 2011) 19-36.
[38]  E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen. Erster und zweiter Band (Göttingen 1970) 214-223.
[39]  W. Kardinal Kasper, Katholische Kirche. Wesen – Wirklichkeit – Sendung (Freiburg i. Br. 2011) 226.
[40]  Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (Gütersloh 2014) 99.
[41]  V. Leppin / D. Sattler (Hrsg.), Reformation 1517-2017. Ökumenische Perspektiven (Freiburg i. Br. – Göttingen 2014) 20.
[42]  E.-M. Faber, Wann ist es genug? Zur ökumenischen Herausforderung des satis est, in: G. Frank, V. Leppin, T. Licht (Hrsg.), Die „Confessio Augustana“ im ökumenischen Gespräch (Berlin 2022) 299-318, zit. 301 und 305. Faber beruft sich dabei auf J. Oeldemann, Ökumene nach 2017…auf dem Weg zur Einheit? (Leipzig-Paderborn 2018) 53-54.
[43]  B. Oberdorfer / O. Schuegraf (Hrsg.), Sichtbare Einheit der Kirche in lutherischer Perspektive. Eine Studie des Ökumenischen Studienausschusses (Leipzig 2017).
[44]  J. Ratzinger – Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung (Freiburg i. Br. 2011) 113-114.
[45]  U. H. J. Körtner, Wohin steuert die Ökumene? Vom Konsens- zum Differenzmodell (Göttingen 2005).
[46]  Ch. Schad / K.-H. Wiesemann (Hrsg.), Bericht über Kirche und Kirchengemeinschaft. Ergebnis einer Konsultationsreihe im Auftrag der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa und des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen (Paderborn – Leipzig 2019).
[47]  W. Thönissen, Ökumenische Theologie heute. Entwicklungen – Tendenzen – Ergebnisse, in: Theologische Revue 116 (2020).
[48]  Evangelisch-Lutherische Kirche Finnlands, Katholische Kirche in Finnland, Wachsende Gemeinschaft. Erklärung über Kirche, Eucharistie und Amt. Bericht der Lutherisch-katholischen Dialog-Kommission für Finnland (Leipzig – Bonifatius 2018) 190 (Nr. 304).
[49]  K. Barth, Die Kirche und die Kirchen, in: Theologische Existenz heute 27 (1935) 4-19.
[50]  Vgl. K. Kardinal Koch, „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller“ (Eph 4, 5). Ein geistlicher Appell zur Einheit, in: St. Kopp / J. Werz (Hrsg.), Gebaute Ökumene. Botschaft und Auftrag für das 21. Jahrhundert (Freiburg i. Br. 2018) 17-38.
[51]  Vgl. Franziskus, Homilie in der Katholischen Heilig-Geist-Kathedrale in Istanbul am 29. November 2014.
[52]  Vgl. K. Kardinal Koch. Lob der Vielfalt – Gerät den christlichen Kirchen die Einheit aus dem Blick? in: St. Kopp / W. Thönissen (Hrsg.), Mehr als friedvoll getrennt? Ökumene nach 2017 (Freiburg i. Br. 2017) 15-40.
[53]  Vgl. K. Kardinal Koch, Auf dem Weg zu einer ökumenischen Feier des 1700. Jahrestags des Konzils von Nicaea (325-2025), in: P. Knauer, A. Riedl, D. W. Winkler (Hrsg.), Patrologie und Ökumene. Theresia Hainthaler zum 75. Geburtstag (Freiburg i. Br. 2022) 320-341.
[54]  V. Leppin / D. Sattler (Hrsg.), Reformation 1517-2017. Ökumenische Perspektiven (Freiburg i. Br. – Göttingen 2014) 67.
[55]  Vgl. K. Kardinal Koch, Die katholische Kirche und die Confessio Augustana, in: G. Frank. V. Leppin. T. Licht (Hrsg.), Die „Confessio Augustana“ im ökumenischen Gespräch (Berlin 2022) 381-398.
[56]  Franziskus, Ansprache an eine Delegation des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel am 28. Juni 2013.