GOTTES WOHNEN IN DER MITTE SEINES VOLKES IN ÖKUMENISCHER GEMEINSCHAFT BEZEUGEN

 

Predigt im Ökumenischen Gottesdienst bei der Wallfahrt „Mit Luther zum Papst“ in Castel Gandolfo am 28. Oktober 2021.

 

Kurt Cardinal Koch

 

Wo wohnt Gott?

Im Leben von uns Menschen spielt die eigene Wohnung eine grosse Rolle. Wir pflegen sie so einzurichten, dass sie unserem Geschmack entspricht, dass wir uns in ihr daheim fühlen können und dass sie uns Lebensqualität ermöglicht. Die eigene Wohnung ist so sehr mit uns Menschen verbunden, dass man mit Carl Zuckmayer sagen könnte: „Als wär´s ein Stück von mir“ und dass man raten könnte: „Sag´ mir, wie und wo du wohnst, und ich sage dir, wer du bist.“

Die eigene Wohnung ist für uns Menschen von so grundlegender Bedeutung, dass auch die Frage aufkommen kann, ob denn auch Gott eine Wohnung hat und wo er denn wohnt. Diese Frage mag beim ersten Hinhören wie eine typische Kinderfrage tönen, die aus kindlicher Neugierde heraus entsteht. Denn Kinder wollen bekanntlich alles wissen. Hinter dieser Frage verbirgt sich jedoch mehr als kindliche Neugier. Mit unserer Antwort auf diese Frage kommt vielmehr an den Tag, wie wir von Gott denken und wie wir zu ihm stehen.

Die herkömmliche und gewiss auch heute spontan geäusserte Antwort auf diese Frage dürfte lauten, dass Gott in der Höhe des Himmels wohnt. Diese Antwort ist gewiss wahr; denn Gott ist der Transzendente, der Welterhabene und Unfassbare, den nicht einmal die Himmel der Himmel fassen können. Dennoch ist diese Antwort nur die halbe Wahrheit. Bereits bei uns Menschen ist ja noch nicht alles ausgesagt, wenn wir bloss wissen, wo ein Mensch wohnt. Es gibt nämlich auch Menschen, die durchaus einen konkret angebbaren Wohnort haben und dennoch in ihrem Herzen eine ganz andere, nämlich eine Wahlheimat tragen. Man kann beispielsweise in Bayern geboren sein und dennoch seine Wahlheimat in Ostdeutschland haben, so dass Sachsen-Anhalt wichtiger ist als sogar der Freistaat Bayern.

Es will scheinen, dass es sich bei Gott ähnlich verhält. Seine angestammte Heimat ist ganz gewiss der Himmel. Doch auch Gott kennt eine Wahlheimat, und diese befindet sich auf unserer Erde. Dies ist die Botschaft, die in unserer Lesung aus dem alttestamentlichen Buch Levitikus Gott an sein Volk adressiert: „Ich schlage meine Wohnstätte in euerer Mitte auf und habe gegen euch keine Abneigung. Ich gehe in eurer Mitte; ich bin euer Gott; und ihr seid mein Volk“ (Lev 26, 11-12). Und was Gott im Alten Testament verheissen hat, das hat er im Neuen Testament vollends und ganz konkret dadurch erfüllt, dass sein eigener Sohn Jesus von Nazareth Mensch unter uns Menschen geworden ist, wie der Evangelist Johannes sehr schön und tief bekennt: „Das Wort ist Fleisch geworden, und hat unter uns gewohnt“ (Joh 1, 14). Genau übersetzt müsste es sogar heissen: Er hat unter uns sein Zelt aufgeschlagen, gleichsam bei und mit uns campiert.

 

Kirche und Ökumene als Ort Gottes

Die Wahlheimat Gottes und deshalb auch seine Wohnung befinden sich unter uns Menschen, und zwar in unserer Mitte. So verkündet es die Heilige Schrift, die zugleich die Grundberufung jener Gemeinschaft der Menschen zum Ausdruck bringt, die den Namen „Kirche“ trägt. Die Kirche hat nicht nur den Auftrag, das Wort Gottes zu verkünden; sie ist vielmehr auch und sogar dazu zuerst berufen, selbst ein Lebens-Ort Gottes zu sein. Darin besteht der Ernstfall, vor dem die Kirche heute wie zu jeder Zeit steht. Die Menschen gerade heute werden nur dann auf das Wort der Kirche hören oder gar den Weg in die Kirche finden, wenn sie in ihr die Gegenwart Gottes wahrnehmen können.

So entspricht es einer anderen tiefen Verheissung im Alten Testament, die uns der Prophet Sacharja überliefert, indem er den „Herrn der Heere“ sprechen lässt: „In jenen Tagen werden zehn Männer aus Völkern aller Sprachen einen Mann aus Juda an seinem Gewand fassen, ihn festhalten und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Gott ist mit euch“ (8, 23). Es ist aufschlussreich, dass in dieser Vision nicht die gläubigen Juden zu den Menschen gehen, um ihnen Gott zu verkünden; vielmehr kommen die Menschen aus vielen Völkern zum Volk Gottes, weil sie gehört haben, dass Gott mit ihm ist. Die Menschen suchen das Volk Gottes deshalb, weil sie in ihm die Gegenwart Gottes suchen. Denn Volk Gottes ist die Kirche nur dann, wenn Gott in ihm wohnt und die Menschen dies spüren können.

Diese Einsicht hat mir vor einigen Jahren ein Jugendlicher vermittelt, als ich unfreiwillig Zuschauer einer Jugendsendung im Deutschen Fernsehen geworden bin. Bei dieser Sendung wurden Jugendliche nach ihrem Verhältnis zur Katholischen Kirche befragt. Von den verschiedenen Stellungnahmen ist mir die spontane Reaktion eines Jugendlichen besonders aufgefallen und bis heute in Erinnerung geblieben. Seine Reaktion hiess kurz und prägnant: „Kirche? – Mein Gott!“ Wir alle spüren, was der Jugendliche damit sagen wollte. Doch ohne es zu wissen und auch ohne es zu wollen, hat der Jugendliche damit die theologisch beste Antwort gegeben, die sich überhaupt ausdenken lässt. Denn niemand ist auf einem besseren Weg als derjenige, der das Wort „Kirche“ sofort auf „Gott“ reimen lässt. Kirche gibt es nur „um Gottes willen“, und zwar im buchstäblichen Sinn. Kirche ist letztlich nur dazu da, damit ein Ausblick auf Gott möglich und Gott gesehen werden kann.

 

Ist die Kirche heute wirklich ein Lebensort Gottes, so dass die Menschen sie als solchen wahrnehmen können und sie deshalb am Gewand fassen? Dies ist die ernste Frage, die wir alle uns zu stellen haben, zumal auf einer Wallfahrt. Damit ist die weitere Frage verbunden, wie die Menschen denn wahrnehmen können, dass Gott in der Mitte seines Volkes wohnt, wenn dieses Volk noch immer in viele christliche Gemeinschaften gespalten ist und noch nicht in Einheit lebt, wie es Jesus selbst wünscht?

Von dieser bedrängenden Frage sind bereits die Teilnehmenden an der Ersten Weltmissionskonferenz bewegt gewesen, die im Jahre 1910 im schottischen Edinburgh stattgefunden hat. Ihnen hat das Ärgernis vor Augen gestanden, dass sich die verschiedenen christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in der Missionsarbeit konkurrenziert und damit der glaubwürdigen Verkündigung des Evangeliums vor allem in fremden Kulturen geschadet haben, weil sie in diese hinein zusammen mit dem Evangelium Jesu Christi auch die europäischen Kirchenspaltungen getragen haben. Sie sind sich deshalb der schmerzlichen Tatsache bewusst geworden, dass die fehlende Einheit unter den Christen das grösste Hindernis für die Weltmission darstellt. Und sie haben erkannt, dass ein glaubwürdiges Reden von Gott voraussetzt, dass die Kirchen ihre Trennungen im Glauben und im Leben überwinden, indem sie sich Rechenschaft darüber geben, ob in ihrer Mitte wirklich Gott lebt und seine Gegenwart erfahren werden kann.

 

Auf Felsen gebautes Haus der Kirche

Damit berühren wir eines der Grundanliegen Martin Luthers, an das Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch im Augustinerkloster Erfurt im Jahre 2011 erinnert hat, indem er die leidenschaftliche Suche nach Gott im Leben und Wirken des Reformators mit den Worten gewürdigt hat: „Was ihn umtrieb, war die Frage nach Gott, die die tiefe Leidenschaft seines Lebens und seines ganzen Weges gewesen ist.“[1] In den Fusstapfen Martin Luthers muss der ökumenische Dienst auch in der heutigen Zeit darin bestehen, in den weithin säkularisierten Gesellschaften in Europa die Gegenwart des lebendigen Gottes, seine Wohnung unter uns Menschen zu bezeugen.

Nur so ist das Haus der Kirche nicht auf Sand, sondern auf Felsen gebaut, wie wir im Evangelium gehört haben: „Wer diese meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baute“ (Mt 7, 24). Es kann demgemäss nicht genügen, das Wort Gottes nur zu hören; es kommt vielmehr darauf an, das Wort Gottes auch zu tun. Damit leuchtet auch der eigentliche Grund auf, dass in der alttestamentlichen Lesung Gott die Verheissung seines Wohnens in der Mitte des Volkes mit den Worten beginnt: „Wenn ihr nach meinen Satzungen handelt, auf meine Gebote achtet und sie befolgt“ (Lev 26, 3).

Vielleicht geraten wir ins Stocken, wenn wir vernehmen, dass die Verheissung der Gegenwart Gottes an das Befolgen seiner Gebote gebunden ist. Solches Stocken kann aber überwunden werden, wenn wir bedenken, dass die Zehn Gebote des Dekalogs keineswegs eine Ansammlung von Verboten sind, mit denen nur ein Nein zum Ausdruck käme, das unsere Freiheit in Frage stellen würde. Tiefer gesehen bringt der Dekalog zehn grosse Ja für unser Leben und Zusammenleben zur Geltung: Der Dekalog enthält in den ersten drei Geboten ein entschiedenes Ja zu Gott, der das Leben von uns Menschen liebt und diesem Leben Sinn gibt. Mit diesem entscheidenden Vorzeichen spricht der Dekalog im vierten Gebot ein Ja zur Familie, im fünften Gebot ein Ja zum Leben, im sechsten Gebot ein Ja zu einer verantwortungsbewussten Liebe, im siebten Gebot ein Ja zu sozialer Verantwortung und solidarischer Gerechtigkeit und im achten Gebot ein Ja zur Wahrheit. Im neunten und zehnten Gebot sagt der Dekalog schliesslich Ja zur ehrfurchtsvollen Achtung der anderen Menschen und dessen, was ihnen gehört.

Nur auf dem Hintergrund eines fundamentalen Ja wird auch das Nein als Gegensatz zur positiv geforderten Kultur des Lebens einsichtig. So zeigt gerade der Dekalog, dass der christliche Glaube nicht einfach eine Ansammlung von Verboten ist, die unser Leben beeinträchtigen würden, sondern eine durchweg positive Option ist. Denn der Dekalog ist von der Glaubensüberzeugung getragen, dass Gott besser als wir Menschen weiss, was für uns gut ist und dass er uns deshalb in den Geboten gleichsam seine Gebrauchsanweisungen dafür gegeben hat, dass unser menschliches Leben und Zusammenleben gelingen kann. Denn Gott will das Gelingen und Glücken unseres Lebens, das freilich nur im Leben in seiner Gegenwart möglich ist.

Dies ist das tiefe Geheimnis unseres Glaubens. Ein Ge-Heim-nis ist im ursprünglichen Sinn dasjenige, was zu unserem Heim gehört und in dem wir daheim sind wie im eigenen Heim. Ein Geheimnis ist deshalb nicht dazu da, rational aufgelöst zu werden; dann würden wir es mit einem Rätsel verwechseln. Ein Geheimnis ist vielmehr dazu da, dass wir es bewohnen. Darin besteht doch der schöne Sinn einer Wallfahrt wie derjenigen „Mit Luther zum Papst“. Sie ist eine willkommene Gelegenheit, das Geheimnis unseres Lebens und Glaubens neu zu bewohnen, im Wissen darum, dass Gott in unserer Mitte wohnen will und dass wir berufen sind, unsere Wohnung so zu pflegen, dass die Menschen spüren können, dass Gott in unserer Mitte wohnt und dass seine Verheissung auch heute wahr ist: „Ich gehe in eurer Mitte; ich bin euer Gott, und ihr seid mein Volk“ (Lev 26, 12). Amen.

 

Lesung:        Lev 26, 2b-6; 11-12
Evangelium: Mt 7, 24-27


 

[1]  Benedikt XVI., Begegnung mit Vertretern des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im Augustinerkloster Erfurt am 23. September 2011.