Christliche Inspirationen für eine Kultur des Dialogs und der Begegnung

Vortrag beim Kongress „Räume des Dialogs. Die christlichen Inspirationen der Kultur der Begegnung“
Lublin, 15. Oktober 2020

Kurt Cardinal Koch

 

Ich bedanke mich herzlich für die freundliche Einladung, den Eröffnungsvortrag bei Ihrem Kongress zu halten, der dem anspruchsvollen Thema gewidmet ist: „Räume des Dialogs. Die christlichen Inspirationen der Kultur der Begegnung“. Wenn es um Begegnung und Dialog geht und wenn Sie dazu an erster Stelle einen Theologen und Bischof sprechen lassen, steht zu vermuten, dass die fundamentalste Form des Dialogs im Vordergrund der Reflexion stehen wird, nämlich der Dialog des Menschen mit Gott.

 

1. Innergöttlicher Dialog in der trinitarischen Gemeinschaft

Als Christen sind wir freilich überzeugt, dass unser Dialog mit Gott nur unsere Antwort auf jenen Dialog sein kann, den Gott selbst zuerst mit uns Menschen führt und den wir „Offenbarung“ nennen. Dabei ist es von grundlegender Bedeutung, dass im christlichen Glauben der Begriff der Offenbarung in erster Linie den Akt bezeichnet, in dem sich Gott uns Menschen zeigt und sich uns als Liebe zusagt, und nicht das verobjektivierte Ergebnis dieses Aktes. Unter der Offenbarung Gottes versteht der christliche Glaube nicht einfach die Mitteilung von Wahrheiten, sondern das personale Zugehen Gottes selbst auf uns Menschen, seine persönliche Kommunikation mit uns und sein geschichtliches Handeln, in dem sich seine Wahrheit enthüllt. Denn Gott ist ein Wesen des Bundes, der Beziehung und des Dialogs, wie die Dogmatische Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die göttliche Offenbarung „Dei verbum“ die Offenbarung Gottes als ganzheitlichen Vorgang beschreibt: „Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun (vgl. Eph 1, 9): dass die Menschen durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben und teilhaftig werden der göttlichen Natur (vgl. Eph 2, 18; 2 Petr 1, 4). In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott (vgl. Kol 1, 15; 1 Tim 1, 7) aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde (vgl. Ex 33, 11; Joh 15, 14-15) und verkehrt mit ihnen (vgl. Bar 3, 38), um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen.“[1]

Als Christen müssen wir aber noch tiefer bohren. Gott ist deshalb ein Gott der Beziehung und des Dialogs, weil es einen noch elementareren Dialog gibt, nämlich den Dialog, der sich innerhalb von Gott selbst vollzieht. Denn im christlichen Verständnis ist Gott nicht das einsame Wesen im Himmel; er ist vielmehr in sich selbst lebendiger Austausch und belebender Dialog. Gott ist in sich im höchsten Mass ein Wesen von Beziehung, Begegnung und Dialog. Wohl deshalb sind die schönsten Namen für Gott allesamt Beziehungsnamen, nämlich Vater, Sohn und Heiliger Geist. Gott ist in einem so radikalen Sinn ein Beziehungswesen, dass er nicht nur Beziehungen hat, sondern in sich selbst Beziehung ist. Denn wir Christen glauben an den Drei-Einen Gott. Dies bedeutet, dass im Drei-Einen Gott Einheit und Vielheit zusammen leben, und Gott uns als ewig liebender Dialog zwischen gleichwertigen Personen begegnet. Dabei sind beide Momente gleichursprünglich, nämlich sowohl die Einheit der Personen als auch ihre bleibende Unterschiedenheit:

Der christliche Glaube an den Drei-Einen Gott bekennt auf der einen Seite, dass in Gott selbst Lebensraum für den Anderen besteht. Denn der Vater ist anders als der Sohn, und der Sohn ist wiederum anders als der Heilige Geist. Es lebt in der göttlichen Dreieinigkeit eine ursprüngliche und wunderschöne Vielheit und Verschiedenheit der Personen. Die christliche Kirche hat deshalb den Modalismus, demgemäss sich das eine göttliche Wesen bloss in drei verschiedenen Weisen, nämlich Modi, zeigt, als Häresie verurteilt. Denn Gott ist in sich selbst Differenz in der Unterschiedenheit der Personen.

Die Unterschiedenheit der Personen von Vater, Sohn und Geist schliesst aber auf der anderen Seite in der göttlichen Dreieinigkeit keine Über- und Unterordnung ein. Denn Vater, Sohn und Heiliger Geist leben auf der gleichen Seinsebene. Es lebt in Gott folglich eine ursprüngliche und wunderschöne Einheit im Wesen der drei Personen. Die christliche Kirche hat deshalb den Subordinatianismus, demgemäss der Sohn und der Heilige Geist dem Vater untergeordnet sind, als Häresie verurteilt. Denn Gott ist in sich selbst lebendige Gemeinschaft der Personen von Vater, Sohn und Heiligem Geist.

 

2. Der Mensch als ein dialogisches Lebewesen

Wenn wir beide Wesensbestimmungen des Geheimnisses der göttlichen Dreieinigkeit zusammen bedenken, dann ist der im christlichen Glauben offenbare Gott gleichursprünglich Einheit und Verschiedenheit, Communio und Differenz. Die Einheit in Gott erweist sich als Einheit durch liebenden Dialog. Dieses christliche Verständnis Gottes hat befreiende Konsequenzen für das Verständnis des Menschen, der zum Ebenbild Gottes berufen ist. Wenn nämlich Gott in sich liebender Dialog ist, dann können auch wir Menschen auf Erden nur Ebenbilder des Dreieinen Gottes sein, wenn wir Menschen des Dialogs werden und sind. Wenn sich die Dialogpartner im innergöttlichen Leben auf derselben Seinsebene befinden, dann sind wir Menschen nur dann Ebenbilder des Dreieinen Gottes, wenn wir in eine dialogische Kommunikation miteinander eintreten. Und wenn der Dreieine Gott gleichursprünglich Einheit und Verschiedenheit ist, dann erweisen wir Menschen uns nur als Ebenbilder Gottes, wenn wir im Gleichgewicht von Communio und Differenz leben.

Die elementarste Konsequenz, die sich aus dem trinitarischen Gottesgeheimnis für die christliche Anthropologie ergibt, besteht darin, dass nicht einfach der einzelne Mensch das Ebenbild Gottes ist, sondern die Gemeinschaft zwischen den Menschen, wie dies der priesterschriftliche Schöpfungsbericht sehr schön zum Ausdruck bringt: „Gott schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1, 26). Wenn wir diese Botschaft ernst nehmen, dann gibt es in der biblischen Sicht „den“ Menschen gar nicht. Der Mensch existiert vielmehr nur ganz konkret als Mann und Frau, und die geschlechtliche Differenzierung im Menschsein gehört zur schöpfungsgemässen Bestimmung des Menschen, und zwar so sehr, dass sie in eine theologische Wesensbestimmung des Menschen aufgenommen ist.

Nur im Zueinander und Miteinander von Mann und Frau findet der Mensch seine Zielbestimmung und ist er Ebenbild Gottes. Denn gemäss dem jahwistischen Schöpfungsbericht hat Gott selbst die Feststellung getroffen: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht“ (Gen 2, 18). In dieser sensiblen und sympathischen Feststellung ist es begründet, dass Gott im Paradies dem Adam die Eva erschuf. Als Adam die von Gott modellierte Eva erkannte, rief er voll Freude aus: „Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heissen; denn vom Mann ist sie genommen“ (Gen 2, 23). Frau und Mann sind deshalb jene beiden Pole in der Ellipse des Menschseins, in der sie gleichwürdig sind, gerade indem sie voneinander verschieden sind; und sie sind voneinander verschieden, damit sie sich dessen immer wieder bewusst werden, dass sie einander brauchen. Sie sind geschaffen, um einander zu ergänzen, wie dies die Heilige Schrift wiederum in Gottes Schöpfung begründet sieht: „Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch“ (Gen 2, 24). Mit diesem „Ein-Fleisch-Werden“ ist dabei nicht einfach eine biologische Wirklichkeit gemeint, sondern das existenzielle Miteinander und Füreinander von Frau und Mann, in dem sich Ich und Du keineswegs auflösen, in dem aber jene neue Einheit entsteht, die nur die Liebe bewirken kann. Mann und Frau stehen dabei exemplarisch und stellvertretend für die Gemeinschaft der Menschen untereinander, die dazu berufen sind, Lebwesen des Dialogs und der Begegnung zu sein.

 

3. Freiheitliche Kommunikation im Dialog

Von daher stellt sich die Frage, wie sich ein wahrhafter Dialog zwischen Menschen vollzieht. Wenn ein solcher auf der Gemeinschaft und Wechselbeziehung der Dialogpartner, die gleichwürdig, aber verschieden sind, beruht, findet ein wahrhafter Dialog nur dort statt, wo er sich zwischen Überzeugungen vollzieht und wo beide Dialogpartner einander etwas zu sagen haben und willens sind, gemeinsam Wahrheit zu suchen und zu finden. Ein solcher Dialog ist deshalb nur im Lebensraum der Freiheit im Sinne der Achtung des Anderen gerade in seinem Anderssein möglich. Er setzt ein symmetrisches Verhältnis zwischen den Dialogpartnern voraus oder, mit Otto F. Bollnow gesprochen, die „Antizipation, dass die beiden Partner auf der Ebene grundsätzlicher Gleichberechtigung und Freiheit in voller Offenheit miteinander zu sprechen bereit sind“[2]. Die im Dialog notwendige Gleichheit und Wechselseitigkeit bedeutet auf der anderen Seite jedoch keineswegs die Nivellierung der Überzeugungen der beiden Partner; sie gehören vielmehr zur Methode eines wahrhaften Dialogs und einer echten Begegnung.

Dialog und Begegnung werden ihrem Anspruch nur gerecht, wenn sie im Geist einer gehaltvollen Toleranz vollzogen werden. Denn gehaltvolle Toleranz unterscheidet sich wesentlich von einer bloss formalen, in den heutigen Auseinandersetzungen jedoch dominierenden Toleranz, die alle Unterschiede sofort als Diskriminierungen anklagt und nur Gleichheit gelten lässt, mit der Konsequenz, dass Toleranz letztlich nur dort als möglich und praktizierbar erscheint, wo die Frage nach der Wahrheit suspendiert wird, und zwar in der falschen Annahme, dass mit Wahrheitsgewissheit vertretene Überzeugungen den Frieden unter den Menschen gefährden würden.[3] Ein „Dialog“ jedoch, der zwischen Partnern geführt würde, die selbst keine klaren Standpunkte vertreten und sich gegenüber der zu suchenden Wahrheit indifferent verhalten, verdient die Ehrenbezeichnung „Dialog“ nicht. Gehaltvolle Toleranz respektiert demgegenüber die bestehenden Unterschiede und führt gerade durch deren Wahrnehmung zu Einheit und Frieden. Papst Franziskus hat deshalb als wichtigen Grundsatz in Erinnerung gerufen, dass es ohne Identität keinen Dialog geben kann, sondern nur ein „Scheindialog, ein Dialog in den Wolken“ geführt wird: „Man kann keinen Dialog führen, wenn man nicht von der eigenen Identität ausgeht.“[4]

Nimmt man den Grundsatz der Gleichheit und Wechselseitigkeit im Dialog ebenso ernst wie die Identität der Partner, die in jedem wahrhaften Dialog vorausgesetzt ist, dann kommt jeder echte Dialog einer Gratwanderung zwischen Extremen gleich: Auf der einen Seite führt ein „Dialog“, der am Finden der Wahrheit nicht interessiert und orientiert ist, sehr schnell in die tödliche Langeweile der Indifferenz. Auf der anderen Seite führt jeder „Dialog“ in die fanatische Borniertheit der Intoleranz, wenn der eine Partner für sich allein absolute Wahrheit beansprucht und den Anderen Wahrheit abspricht. Beide Extreme – Gleichgültigkeit und Fanatismus, Indifferenz und Intoleranz – stellen das Gegenteil eines wahrhaften Dialogs dar. Beiden Extremen gegenüber zeichnet sich ein wahrhafter Dialog dadurch aus, dass er sich in Freiheit zwischen Überzeugungen vollzieht und gerade so der Freiheit und dem Frieden dient. Denn wer davon überzeugt ist, „dass die Wahrheit ihre eigene Strahlkraft hat“[5], wird im Dialog darauf verzichten, sich selbst durchsetzen zu wollen und auf die Anderen Druck auszuüben. Er ist vielmehr der entschiedenen Ansicht, dass Wahrheit allein durch Überzeugung wirkt.

Das Gelingen eines wahrhaften Dialogs setzt folglich die klare Unterscheidung zwischen der Macht des Überredens und der Kraft des Überzeugens voraus: Der Versuch und die Versuchung zum Überreden eines anderen Menschen hat sein Ziel darin, den eigenen Standpunkt dem anderen Menschen aufzuzwingen, und ist deshalb immer autoritär und totalitär. Die Kunst des Überzeugens erweist sich demgegenüber als freiheitliche Einladung an den Partner, Kommunikation aufzunehmen und in einen belebenden Dialog einzutreten. Dabei versteht es sich von selbst, dass nur die zweite Alternative, nämlich das Überzeugen, der Würde des Menschen und dem christlichen Evangelium zu entsprechen vermag.

 

4. Dialog als Wesensvollzug der Kirche

Auf dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Überlegungen dürfte deutlich sein, dass Prinzip und Methode des Dialogs nicht einfach eine Modeerscheinung in der Kirche heute darstellen, sondern das innerste Wesenselement der Kirche ausmachen, wie dies Papst Paul VI. in seiner Antritssenzyklika „Ecclesiam suam“ zum Ausdruck gebracht hat: „Die Kirche muss zu einem Dialog mit der Welt kommen, in der sie nun einmal lebt. Die Kirche macht sich selbst zum Wort, zur Botschaft, zum Dialog.“[6] Damit hat Papst Paul VI. ausgesprochen, was das Zweite Vatikanische Konzil intendiert hat und was vor allem am Beginn der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“ ins Wort gebracht wird, wenn es dort heisst, dass „nach einer tieferen Klärung des Geheimnisses der Kirche“ sich das Zweite Vatikanische Konzil „ohne Zaudern nicht mehr bloss an die Kinder der Kirche und an alle, die Christi Namen anrufen“, wendet, „sondern an alle Menschen schlechthin in der Absicht, allen darzulegen, wie es Gegenwart und Wirken der Kirche in der Welt von heute versteht“[7]. Mit dieser programmatischen Anzeige führt die Pastoralkonstitution nicht nur in ihre Grundthematik der Sendung der Kirche in der Welt ein, sondern zeigt auch den grundlegenden Zusammenhang mit der Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ auf, in der in den Nummern 14 bis 16 dargelegt wird, dass sich die Sendung der Kirche gleichsam in konzentrischen Kreisen verwirklicht: Die Kirche wendet ihre Aufmerksamkeit zuerst den „katholischen Gläubigen“ zu, dann all „jenen, die durch die Taufe der Ehre des Christennamens teilhaft sind“, und schliesslich denjenigen, „die das Evangelium noch nicht empfangen haben“.

Damit ist deutlich signalisiert, dass die Kirche mit allen Menschen im Dialog sein will: im Dialog mit den verschiedenen Ständen und Sendungen in der eigenen Kirche, im Dialog mit den anderen christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, im Dialog mit den anderen Religionen, im Dialog mit den verschiedenen Weltanschauungen und Ethiken, im Dialog mit den Wissenschaften und im Dialog mit den verschiedenen Lebensbereichen in der heutigen Gesellschaft. Aus diesen verschiedenen Dialogrichtungen will ich aus gegebenem Anlass nur auf den ökumenischen Dialog kurz eingehen, den die Katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil pflegt und in dem der heilige Papst Johannes Paul II. „eines der hauptsächlichen Zeichen und zugleich einen der Beweise für die Erneuerung der Kirche“ wahrgenommen hat, wie er bereits in seiner „Studie zur Verwirklichung des Zweiten Vatikanischen Konzils“ bekannt hat[8], die er zur Umsetzung des Konzils in der ihm damals anvertrauten Diözese Krakau geschrieben hat.

Was vorhin als Wesen eines jeden zwischenmenschlichen Dialogs kurz skizziert worden ist, trifft erst recht auf den ökumenischen Dialog zu, bei dem es um Fragen des Glaubens und des christlichen Lebens geht. Diesbezüglich hebt das Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio“ hervor, dass „ein jeder mit dem anderen auf der Ebene der Gleichheit“ spricht“, und es bringt die notwendige Wechselbeziehung, die in einem wahrhaften ökumenischen Dialog gegeben sein muss, auf die Formel „par cum pari agat“[9]. Das Konzil hat damit eine Formel aufgenommen, die sich bereits in der vom Heiligen Officium im Jahre 1949 veröffentlichten „Instructio Ecclesia catholica“ findet, in der es heisst, dass „jede der beien Parteien, katholisch und nichtkatholisch, auf dem Boden der Gleichheit (par cum pari)“ Fragen des Glaubens und der Sittenlehre diskutieren und die Lehre seines Bekenntnisses erklären soll.

Damit ist ein Doppeltes ausgesprochen. Auf der einen Seite ist deutlich, dass sich der ökumenische Dialog auf der Grundlage des gemeinsamen christlichen Erbes vollzieht und folglich ein Dialog zwischen Brüdern und Schwestern ist. Im promulgierten Text des Ökumenismusdekrets ist deshalb nicht mehr, wie noch im Schema „De oecumenismo“ aus dem Jahre 1963, von einem „katholischen Ökumenismus“ die Rede, sondern von „katholischen Prinzipien des Ökumenismus“. Denn das Konzil wollte der Ökumenischen Bewegung, die innerhalb der nichtkatholischen Christenheit entstanden ist, nicht einen eigenen Ökumenismus, gleichsam einen katholischen Sonderweg zur Seite stellen, sondern ist überzeugt gewesen, dass es nur einen Ökumenismus geben kann, den das Konzil ausdrücklich auf die „Einwirkung der Gnade des Heiligen Geistes“ zurückführte[10]. Auf der anderen Seite ist es ebenso evident, dass der ökumenische Dialog die Glaubensidentität der Dialogpartner keineswegs in Frage stellt, sondern sie vielmehr voraussetzt. Denn solange die Wiederherstellung der Einheit der Christen noch nicht verwirklicht ist und es folglich noch kein wirklich tragfähiges gemeinsames Verständnis des Ziels des Ökumenismus gibt, nimmt jede Kirche und kirchliche Gemeinschaft ihre ökumenische Verantwortung auf dem Fundament ihrer eigenen Glaubensüberzeugungen wahr. In diesem Sinn erwartet die Katholische Kirche von den Bischöfen als den Erstverantwortlichen für das ökumenische Anliegen in ihren Ortskirchen, dass sie den Ökumenismus fördern, „wie er von der Kirche verstanden wird“[11] Von derselben Überzeugung lässt sich auch der Ökumenische Rat der Kirchen leiten, insofern die Mitgliedschaft in diesem Rat nicht bedeutet, das eigene Glaubens- und Wahrheitsverständnis in Frage stellen zu müssen, und auch nicht impliziert, alle Mitgliedskirchen des Rates als Kirchen im vollen Sinn zu anerkennen.

 

5. Verschiedene Gestalten des ökumenischen Dialogs

Nimmt man den Grundsatz „par cum pari“ ebenso ernst wie die jeweilige Identität der Partner, erschliesst sich auch das Grundprinzip des ökumenischen Dialogs, das nicht einfach in einem Austausch von Gedanken, Ideen und Theorien, sondern viel elementarer im gegenseitigen Austausch der Gaben besteht. In solchem Austausch geht es freilich, wie Papst Franziskus hervorhebt, nicht bloss darum, „Informationen über die anderen zu erhalten, um sie besser kennen zu lernen“, sondern darum, „das, was der Geist bei ihnen gesät hat, als ein Geschenk aufzunehmen, das auch für uns bestimmt ist“. Denn keine Kirche ist so reich, dass sie nicht der Bereicherung durch andere bedürfte; und keine Kirche ist so arm, dass sie nicht einen eigenen Beitrag in die ökumenische Gemeinschaft einbringen könnte. Durch einen solchen Austausch von Gaben kann deshalb der Heilige Geist „uns immer mehr zur Wahrheit und zum Guten führen“[12]. Damit solcher Austausch der Gaben gelingen und das ökumenische Anliegen von allen Getauften wahrgenommen werden kann, vollzieht sich der ökumenische Dialog in verschiedenen Gestalten.

An erster Stelle ist der Dialog der Liebe, der Geschwisterlichkeit und der Freundschaft zu nennen. Diese Gestalt des ökumenischen Dialogs hat unter den Christen und christlichen Gemeinschaften die „Brüderlichkeit“ wieder entdecken lassen, die Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika über den Einsatz für die Ökumene „Ut unum sint“ zu den wichtigsten Früchten des ökumenischen Bemühens gezählt hat[13]. Denn die zahlreichen Begegnungen, die verschiedenen Gespräche und die wechselseitigen Besuche zwischen den verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften haben ein Netz von freundschaftlichen Beziehungen entstehen lassen, die das tragfähige Fundament für alle weiteren ökumenischen Beziehungen darstellen. Zu denken ist beispielsweise an die schöne Tradition von gegenseitigen Besuchen von Repräsentanten der Kirche von Konstantinopel und der Kirche von Rom zu den jeweiligen Patronatsfesten oder bei besonders wichtigen Anlässen. Der Dialog der Liebe dient vor allem auch der Versöhnung zwischen den Kirchen, die sich in Bitten um Vergebung für die in der Vergangenheit begangenen Sünden konkretisiert und oft mit ausdrucksstarken Gesten verbunden ist, die die bessere Sprache als viele Worte sein können.

Während der Dialog der Liebe vor allem von Verantwortungsträgern in verschiedener Kirchen geführt wird, betrifft der Dialog des Lebens alle Gläubigen. Der Dialog des Lebens findet seinen Ausgangs- und Bezugspunkt in der Rückbesinnung auf das neue Leben, das dem Christen in der Taufe im Namen des Dreieinen Gottes geschenkt und in dem bereits jetzt eine fundamentale, wenn auch noch nicht volle Einheit gegeben ist. Im Blick auf den Dialog des Lebens hebt das „Direktorium zur Ausübung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus“ hervor, dass der Beitrag, den die Christen „in allen Bereichen des menschlichen Lebens“, in denen sich „das Verlangen nach Heil“ kundtut, leisten, wirksamer ist, „wenn sie ihn gemeinsam leisten und wenn man sieht, dass ihr Tun ein gemeinsames ist“. Der Dialog des Lebens besteht im Kern darin, dass die Christen „alles gemeinsam“ tun, „soweit es ihnen ihr Glaube erlaubt“[14].

Der Dialog des Lebens konkretisiert sich im pastoralen Dialog, nämlich in der gemeinsamen Sorge um den Menschen in den heutigen Lebenssituationen. Eine besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die pastorale Sorge um die Menschen, die in noch voneinander getrennten Kirchen, aber in einer gemeinsamen Ehe leben. Die pastorale Zusammenarbeit zwischen Christen und Kirchen impliziert vor allem ein gemeinsames Zeugnis für die Wahrheit des Evangeliums und seiner Botschaft von der Gegenwart Gottes in der Welt, worauf Papst Benedikt XVI. immer wieder hingewiesen hat: „Unser erster ökumenischer Dienst in dieser Zeit muss es sein, gemeinsam die Gegenwart des lebendigen Gottes zu bezeugen und damit der Welt die Antwort zu geben, die sie braucht.“[15] Mit diesem Gotteszeugnis verbindet sich von selbst das pastorale Eintreten für den Menschen als Gottes Geschöpf und Ebenbild, konkret das Eintreten für die unantastbare Würde eines jeden Menschen von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod.

Von daher ist es nur ein kleiner Schritt zu jener Gestalt, die man als praktischen Dialog bezeichnen kann, der einschliesst, dass man im Blick auf die elementaren Herausforderungen in der heutigen Welt all das gemeinsam tun soll, was man gemeinsam tun kann. Gemeinsames Handeln von Christen und kirchlichen Gemeinschaften drängt sich vor allem auf angesichts der grossen Fragen und Probleme in der heutigen Zeit wie der Parteinahme für die Armen und für die Bewahrung der Schöpfung, der Förderung des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit, der Hilfe beim grossen Flüchtlingsproblem, der Verteidigung der Religionsfreiheit und des Rechts auf Leben in allen seinen Phasen und Dimensionen und des Schutzes der gesellschaftlichen Institutionen von Ehe und Familie. Auch und vor allem die stets zunehmende Globalisierung muss für die Christen und Kirchen ein weiteres Motiv sein, die ökumenische Zusammenarbeit im Dienst am ganzheitlichen Wohl der Menschheitsfamilie zu konsolidieren und zu intensivieren.

Als sehr wichtig, um auf dem Weg zur Einheit voranzukommen, erweist sich der kulturelle Dialog. Denn aus der ökumenischen Forschung wissen wir, dass bei den verschiedenen Spaltungen in der Geschichte der Kirche immer auch kulturelle Faktoren eine massgebliche Rolle gespielt haben. In der westlichen und der östlichen Christenheit beispielsweise ist das Evangelium Jesu Christi eigentlich von Anfang an in einer unterschiedlichen Art und Weise aufgenommen und in verschiedenen Traditionen und kulturellen Ausformungen gelebt und weitergegeben worden. Mit diesen Unterschieden haben die kirchlichen Gemeinschaften in Ost und West im ersten Jahrtausend in der einen Kirche in Gemeinschaft gelebt. Sie haben sich aber immer mehr voneinander entfremdet und konnten sich immer weniger verstehen.[16] Solche kulturellen Faktoren haben zu einem grossen Teil die spätere Spaltung in der Kirche zwischen Ost und West mit verursacht. Angesichts der grossen Bedeutung, die kulturelle Faktoren bei den Kirchenspaltungen gespielt haben, besteht die ökumenische Herausforderung darin, die Kultur der anderen Christen und Kirchen kennen zu lernen, um besser die Art und Weise zu verstehen, in der sie das Evangelium Jesu Christi denken und leben. Durch solchen kulturellen Dialog kann die Einsicht wachsen, dass Christen, die in verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften leben, denselben Glauben teilen, ihn aber in verschiedener Weise und gemäss der jeweiligen kulturellen Begabung der Völker und ihrer Traditionen zum Ausdruck bringen.

Die bisher genannten Gestalten des ökumenischen Dialogs bilden die unabdingbare Voraussetzung und den organischen Lebensraum für den Dialog der Wahrheit, nämlich die theologische Auseinandersetzung mit jenen Faktoren, die Ursachen der nach wie vor bestehenden Kirchentrennungen sind. Solcher Dialog der Wahrheit ist notwendig, um dem ökumenischen Ziel der Einheit näher zu kommen. Denn Einheit kann nur in der gemeinsamen Erkenntnis und Anerkenntnis der Wahrheit des Glaubens gefunden werden. An der Wahrheit des Glaubens vorbei kann es keine Einheit geben. Theologische Dialoge dieser Art hat die Katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit beinahe allen christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften geführt und führt sie weiter. Aus ihnen konnten viele positive Früchte geerntet werden, wie sie beispielsweise Walter Kardinal Kasper in seinem Buch „Harvesting the Fruits“ vorgelegt hat[17]. Bei allen diesen positiven Ergebnissen kann aber nicht verschwiegen werden, dass das eigentliche Ziel der Ökumenischen Bewegung, nämlich die Wiederherstellung der Einheit der Kirche, beziehungsweise der vollen kirchlichen Gemeinschaft, noch nicht erreicht werden konnte, sondern viel mehr Zeit in Anspruch nimmt, als am Beginn der Ökumenischen Bewegung erhofft worden ist. Auf dieses Ziel hin muss in den Dialogen der Wahrheit mit Leidenschaft und Geduld weiter gearbeitet werden.

Schliesslich darf die elementarste Gestalt nicht vergessen werden, nämlich der spirituelle Dialog, den das Zweite Vatikanische Konzil die „Seele der ganzen ökumenischen Bewegung“ genannt hat[18]. Sie hat früh ihren sichtbaren Ausdruck darin gefunden, dass am Beginn der Ökumenischen Bewegung die Einführung der Gebetswoche für die Einheit der Christen gestanden hat und von Anfang an eine ökumenische Initiative gewesen ist. Es ist das Gebet um die Einheit der Christen gewesen, das den Weg der Ökumenischen Bewegung geöffnet hat, die in ihrem innersten Kern eine Gebetsbewegung gewesen ist. Diese Gestalt des spirituellen Dialogs geht ursprünglich bis in den Abendmahlssaal zurück, in dem Jesus um die Einheit seiner Jünger gebetet hat. Das Gebet um die Einheit der Christen erweist sich auch heute als basalste Form der Ökumene. Denn mit dem Gebet um die Einheit bringen wir Christen unsere Glaubensüberzeugung zum Ausdruck, dass wir Menschen die Einheit nicht machen und auch nicht über ihre konkrete Gestalt und ihren Zeitpunkt befinden können. Wir Menschen können Spaltungen machen; dies zeigen die Geschichte und – leider – auch die Gegenwart. Die Einheit hingegen können wir nur empfangen, und zwar vom Heiligen Geist, der die göttliche Quelle und Triebkraft der Einheit ist. Die beste Vorbereitung, um die Einheit als Geschenk des Heiligen Geistes zu empfangen, ist dabei das Gebet um die Einheit.

Damit kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Darlegungen zurück, nämlich auf die Einsicht, dass die ursprüngliche und tiefste Form allen Dialogs der Dialog des Menschen mit Gott, ja noch zuvor der Dialog Gottes mit uns Menschen ist, mit dem er uns einlädt, mit ihm einen lebendigen Dialog zu pflegen. Denn je mehr wir uns in das dialogische Wesen Gottes, wie es in seinem trinitarischen Geheimnis aufscheint, vertiefen, desto mehr werden wir selbst dialogfähige Menschen und Christen. Darin erblicke ich die wesentlichen christlichen Inspirationen für eine Kultur des Dialogs und der Begegnung. Mit dieser Überzeugung wünsche ich Ihnen ein gutes Gelingen des für Kirche und Gesellschaft bedeutsamen Kongresses.

 

 

 

[1]  Dei verbum, Nr. 2.

[2] O. F. Bollnow, Das Doppelgesicht der Wahrheit (Stuttgart 1975) 66.

[3]  Vgl. K. Koch, Säkulare Toleranz und christlicher Glaube, in: Ders., Konfrontation oder Dialog? Brennpunkte heutiger Glaubensverkündigung (Freiburg / Schweiz – Graz 1996) 123-147.

[4]  Franziskus, Ansprache bei der Begegnung mit den Führern anderer Religionen und anderer christlicher Konfessionen in Tirana am 21. September 2014.

[5]  Franziskus, a.a.O.

[6]  Paul VI., Ecclesiam suam, Nr. 65.

[7]  Gaudium et spes, Nr. 2.

[8]  K. Wojtyla, Quellen der Erneuerung. Studie zur Verwirklichung des Zweiten Vatikanischen Konzils (Freiburg i. Br. 1981) 284.

[9]  Unitatis redintegratio, Nr. 9.

[10]  Unitatis redintegratio, Nr. 1. Vgl. auch Nr. 4.

[11]  Canon 383 - § 3 CIC 1983.

[12]  Franziskus, Evangelii gaudium, Nr. 246.

[13]  Johannes Paul II., Ut unum sint, Nr. 41-42.

[14]  Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus, Nr. 162.

[15]  Benedikt XVI., Ansprache im Ökumenischen Gottesdienst in der Kirche des Augustinerklosters Erfurt am 23. September 2011.

[16]  Vgl. Y. Congar, Zerstrittene Christenheit. Wo trennten sich Ost und West (Wien 1959).

[17]  Cardinal W. Kasper, Harvesting the Fruits. Basic Aspects of Christian Faith in Ecumenical Dialogue (London – New York 2009).

[18]  Unitatis redintegratio, Nr. 8.