PETRUS UND PAULUS ALS „ÖKUMENISCHES ZWEIGESPANN“

Predigt im Gottesdienst am Fest der heiligen Petrus und Paulus in der Evangelischen Christuskirche
in Rom am 27. Juni 2021

 

 

Kurt Cardinal Koch

 

Für Ihre Einladung, in der Evangelischen Christuskirche in Rom am Fest der heiligen Petrus und Paulus das Predigtwort zu halten, danke ich Ihnen sehr. Die Einladung ist ein weiteres schönes Zeichen dafür, wie die ökumenische Verständigung zwischen Lutheranern und Katholiken gediehen ist. Dieser Bedeutung werden wir ansichtig, wenn wir in die Vergangenheit blicken, die unter ganz anderen Vorzeichen gestanden hat. Denn es hat in der Geschichte Zeiten gegeben, in denen die beiden Apostelfürsten nicht zusammengesehen, sondern gleichsam auf verschiedene Kirchen und kirchliche Gemeinschaften aufgeteilt worden sind: Petrus galt als Repräsentant der Katholischen Kirche, und sie verstand sich als „Kirche des Petrus“. Demgegenüber galt Paulus als biblischer Gewährsmann für die aus der Reformation im 16. Jahrhundert hervorgegangenen Kirchen, die sich als „Kirchen des Paulus“ verstanden. Und um auf die Aufteilung noch weiter voranzubringen, hat sich die grosse Tradition der Orthodoxen Kirchen vor allem am Evangelisten Johannes orientiert. Auf diesem Hintergrund konnte sogar die These vertreten werden, der neutestamentliche Kanon mit seinen verschiedenen Schriften begründe gerade nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen. Damit freilich wäre nicht die Einheit der Kirche, sondern der Pluralismus von Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften biblisch begründet; und damit würden Paulus, Petrus und Johannes konfessionell vollends aufgeteilt.

 

Belebende Pole der Einheit

Ein Anlass für diese selektive Zuordnung der Apostelfürsten zu verschiedenen Kirchen ist gewiss auch die Feststellung gewesen, dass Petrus und Paulus sehr verschiedene Charaktere eigen gewesen sind, dass sie auch verschiedene Stellungen und Sendungen inne gehabt und sich deshalb in verschiedener Hinsicht voneinander unterschieden haben: Während Petrus Jesus in seinem irdischen Leben begleitet hat, ist Paulus erst nach der Auferstehung Jesu Christi zum Apostel berufen worden. Während Petrus sich ganz um die Verkündigung des Evangeliums bei den Juden gekümmert hat, hat Paulus das Evangelium zu den Völkern getragen.

Trotz aller Unterschiede haben aber beide Apostel sehr Vieles gemeinsam. Der Gedenktag der beiden Apostel lädt uns ein, uns auf dieses Gemeinsame zu besinnen und danach zu fragen, welche Botschaft damit für unsere ökumenische Verständigung und Versöhnung verbunden ist. Denn wie Petrus und Paulus auf der Fassade der Christuskirche in gleicher Weise Christus flankieren und auf seine Mitte hinweisen, so erscheinen Petrus und Paulus auch im Neuen Testament keineswegs als unversöhnliche Gegensätze. Sie begegnen vielmehr, mit dem katholischen Neutestamentler Franz Mussner gesprochen, als „Pole der Einheit“, gleichsam als „ökumenisches Zwiegespann“[1]. In dieser Eigenschaft können sie uns helfen, die verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften zur spannungsvollen sichtbaren Einheit der Una Sancta zurück zu führen, in der keine Kirche ihr Proprium aufgeben muss.

Die erste bedeutende Gemeinsamkeit zwischen Petrus und Paulus, die in die Augen springt, ist die Tatsache, dass bei beiden mit ihrem herkömmlichen Namen etwas grundlegend Neues geschehen ist. Beide, Simon und Saulus, haben von Jesus einen neuen Namen erhalten. Dies fällt vor allem deshalb auf, weil Jesus im Allgemeinen die Namen seiner Jünger nicht geändert hat. Bei Simon und Saulus hat Jesus jedoch eine Ausnahme gemacht: Aus Saulus ist nach dem überwältigenden Ereignis bei Damaskus und seiner damit verbundenen Bekehrung Paulus geworden. Der neue Name steht dafür, dass sich Paulus von Gott „schon im Mutterleib auserwählt und durch seine Gnade berufen“ wissen durfte, wie er in seinem Brief an die Galater (1, 15) bekennt. Auch bei Petrus hat Jesus dessen Namen geändert. Er hat Simon Kephas genannt, was „Fels“ bedeutet und in der griechischen Sprache zu Petros geworden ist.

Mit dem Verleihen eines neuen Namens ist bei Jesus die Übertragung einer neuen Sendung verbunden. Mit der Namensänderung hat Petrus einen neuen Auftrag und eine besondere Stellung innerhalb des Jüngerkreises erhalten: Petrus hat zumeist im Namen der anderen Apostel gesprochen, und im Namen der Zwölf hat er bei Cäsarea Philippi das Glaubensbekenntnis abgelegt, das zum Grundbekenntnis der Kirche geworden ist: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16, 16). Auch bei Paulus bedeutet der neue Name eine neue Sendung, nämlich den grossen Auftrag, das Evangelium zu den Heidenvölkern zu tragen, wie Paulus selbst bekennt: Gott hat „mir in seiner Güte seinen Sohn offenbart, damit ich ihn unter den Heiden verkünde“ (Gal 1, 16).

Mit der neuen Namensgebung ist freilich nicht nur eine besondere Sendung verbunden, sondern sie ist zuerst das Zeichen einer besonderen Zuwendung und Zuneigung Jesu zu Petrus und Paulus, wie nochmals in den biblischen Lesungen im heutigen Gottesdienst sichtbar ist. Die Lesung aus dem Galaterbrief zeigt, dass sich Paulus in einer inneren, geradezu intimen Beziehung von Christus zu ihm gewusst hat; denn er ist überzeugt gewesen, dass er das Evangelium, dessen Verkündigung er sein ganzes Leben gewidmet hat, nicht von Menschen übernommen, sondern „durch die Offenbarung Jesu Christi empfangen“ hat (Gal 1, 12). Und auch im Evangelium ist deutlich, dass das Glaubensbekenntnis des Petrus nicht aus „Fleisch und Blut“ stammt, sondern vom Vater im Himmel offenbart worden ist, und dass Jesus als Antwort auf das Bekenntnis des Petrus die feierliche Erklärung abgegeben hat: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“ (Mt 16, 18).

 

Einheit der Kirche in der Gemeinschaft mit Christus

Petrus und Paulus zeigen uns damit, worauf es in den Ökumenischen Bemühungen auch heute entscheidend ankommt und worauf die beiden Gestalten auf der Vorderseite der Christuskirche hinweisen: Christen verschiedener Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften werden umso inniger zueinander finden, je tiefer sie sich gemeinsam in Christus verwurzeln. Denn Christus gibt es nicht ohne seinen Leib, die Kirche. Wenn wir diese intime Zusammengehörigkeit zwischen Christus und seiner Kirche, die sein Leib ist, ernst nehmen, wird uns in neuer Weise bewusst, dass Jesus nur eine Kirche gewollt und gestiftet hat und dass alles ökumenische Bemühen darin besteht, diese eine Kirche wieder zu finden und sichtbar dazustellen.

Die beste und glaubwürdigste Form der Ökumene ist es deshalb, sich in das Geheimnis Jesu Christi zu vertiefen und nach dem Evangelium zu leben. Diese ökumenische Feuerprobe hat der russische Dichter und Religionsphilosoph Wladimir Solowjow in seiner „Kurzen Erzählung vom Antichristen“ in einer radikalen Weise verdeutlicht, in der eine doppelte Botschaft enthalten ist: Auf der einen Seite wird im Augenblick der letzten Entscheidung vor Gott sichtbar werden, dass in allen drei Gemeinschaften, nämlich bei Petrus, Paulus und Johannes, Parteigänger des Antichristen leben, die mit ihm gemeinsame Sache machen, dass es aber in allen drei Gemeinschaften auch wahre Christen gibt, die dem Herrn bis in die Stunde seines Kommens die Treue halten. Auf der anderen Seite werden vor dem Angesicht des wiedergekommenen Christus die Getrennten um Petrus, Paulus und Johannes einander als Brüder und Schwestern erkennen.

Mit dieser eindringlichen Erzählung will Solowjow weder die drei biblischen Gestalten verschiedenen Kirchen exklusiv zuordnen noch die Einheit der Jünger ans Ende der Tage verschieben oder gar ins Eschatologische vertagen. Er fordert uns vielmehr heraus, das Eschatologische im wörtlichen Sinn als das wahrhaft Wirkliche zu verstehen, genauer dahingehend, dass all das, was im Licht des wiederkommenden Christus sichtbar wird, die Wahrheit einer jeden Zeit und damit auch unserer Gegenwart enthüllt. Die endgültige Scheidung zwischen den Parteigängern des Antichrists und den treuen Gefährten Jesu Christi wird zwar gewiss erst am Tage der Ernte erfolgen. Bereits heute sollten wir Christen aber in den verschiedenen Gemeinschaften einander gleichsam mit dem eschatologischen Blick begegnen und im Licht des wiederkehrenden Christus leben. Wenn wir nämlich gemeinsam unterwegs zum wiederkommenden Christus sind, sind wir auch miteinander unterwegs und können wir schon heute auch als noch Getrennte eins sein im gemeinsamen Glauben an Jesus Christus, wie dies Papst Benedikt XVI. einmal sehr schön zum Ausdruck gebracht hat: „Je mehr wir uns Christus annähern, indem wir uns zu seiner Liebe bekehren, desto mehr kommen wir auch einander näher.“ [2]

 

Ökumene des Martyriums

Auf diesem Weg sind Petrus und Paulus hilfreiche Begleiter, zumal beide Christus bis zur Preisgabe des eigenen Lebens in Rom bezeugt haben. Am Ende des Lebens des Petrus stand sein Blutzeugnis für den Glauben an Christus. Auch Paulus hat seinen Einsatz für das Evangelium mit dem Leben bezahlt. Petrus und Paulus haben den Märtyrertod in Rom erlitten. Darin sind sie wohl am tiefsten miteinander verbunden, und damit machen sie uns auf eine weitere Dimension der ökumenischen Herausforderungen heute aufmerksam:

Am Ende des zweiten und am Beginn des dritten Jahrtausends ist die Christenheit erneut Märtyrerkirche geworden. Heute finden sogar mehr Christenverfolgungen als in den ersten Jahrhunderten statt. Achtzig Prozent aller Menschen, die heute wegen ihres Glaubens verfolgt werden, sind Christen. Der christliche Glaube ist in der heutigen Welt die am meisten verfolgte Religion. Dabei haben heute alle christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ihre Märtyrer. Christen werden heute nicht verfolgt, weil sie katholisch, orthodox oder lutherisch sind, sondern weil sie Christen sind. Das Martyrium ist heute ökumenisch, und man muss von einer eigentlichen Ökumene der Märtyrer sprechen.

Bei aller Tragik enthält die Ökumene der Märtyrer auch eine schöne Verheissung in sich. Denn die standfesten Glaubenszeugen in allen christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften haben gezeigt, wie Gott selbst bei den Glaubenden unter dem höchsten Anspruch des mit dem Opfer des Lebens bezeugten Glaubens die Gemeinschaft auf einer tieferen Ebene aufrecht erhält. Während wir Christen und Kirchen auf dieser Erde noch in einer unvollkommenen Gemeinschaft zu- und miteinander stehen, leben die Märtyrer in der himmlischen Herrlichkeit bereits jetzt in voller und vollendeter Gemeinschaft. Die Märtyrer sind, wie Papst Johannes Paul II. in eindrücklicher Weise hervorgehoben hat, „der bedeutendste Beweis dafür, dass in der Gazhingabe seiner selbst an die Sache des Evangeliums jedes Element der Spaltung bewältigt und überwunden werden kann“[3].

In der Ökumene der Märtyrer oder, wie Papst Franziskus zu sagen pflegt, in der Ökumene des Blutes dürfen wir den innersten und tiefsten Kern allen ökumenischen Bemühens um die Einheit der Kirche wahrnehmen. Bei der Ökumene der Märtyrer bestätigt sich die Überzeugung der Alten Kirche erneut, die der Kirchenschriftsteller Tertullian mit den Worten ausgesprochen hat, das Blut der Märtyrer sei der Same von neuen Christen. So dürfen wir auch heute hoffen, dass sich das Blut von so vielen Märtyrern unserer Zeit einmal als Same der vollen ökumenischen Einheit des Leibes Christi erweisen wird.

In dieser Zuversicht gehen wir unseren Weg weiter und setzen wir unsere ökumenische Verständigung in geduldiger Leidenschaft fort, begleitet von den heiligen Petrus und Paulus, dem bereits im Neuen Testament gegenwärtigen „ökumenischen Zwiegespann“. Es schenkt uns die hilfreiche Wegweisung, dass wir die Einheit des Leibes Christi wiederfinden werden, wenn wir uns immer entschiedener in das Christusgeheimnis vertiefen, das Petrus und Paulus in grosszügiger Liebe anvertraut worden ist und das sie in glaubwürdiger Weise verkündet haben. Denn Petrus und Paulus ermutigen uns, in ökumenischer Gemeinschaft in das christliche Grundbekenntnis einzustimmen und es mit unserem Leben zu bezeugen: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16, 16). Amen.

 

Lesung:        Gal 1, 11-24
Evangelium: Mt 16, 13-19

 

 

 

 

[1]  F. Mussner, Petrus und Paulus – Pole der Einheit (Freiburg i. Br. 1976) 5.
[2]  Benedikt XVI., Generalaudienz am 17. Januar 2007.
[3]  Johannes Paul II., Ut unum sint, Nr. 1.