Europa und seine geistige Identität

 

Vortrag beim Institut für Strategische Studien in Budapest
am 7. Juni 2021

 

Kurt Cardinal Koch

 

1. Rückbesinnung auf die christlichen Wurzeln Europas

Befindet sich Europa heute noch auf seiner Höhe? Diese Frage ist nicht rhetorisch, sondern ganz konkret und realistisch gemeint. Denn Europa ist auf Anhöhen gegründet worden, genauer auf drei Hügeln, mit denen der frühere deutsche Bundespräsident Theodor Heuss die Entstehung und die Identität Europas umschrieben hat, nämlich die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom und Golgotha in Jerusalem. Es wären gewiss noch weitere Hügel zu erwähnen wie der Berg Sinai als Ort der Offenbarung Gottes oder der Berg Montecassino, auf dem der heilige Benedikt, der Patron Europas, im Jahre 529 und damit in einer sehr schwierigen Zeit sein erstes Kloster begründet hat, oder auch der Hügel, auf dem der Vatikan erbaut ist. Konzentrieren wir uns aber auf die drei zuerst genannten Hügel, in denen die anderen eingeschlossen sind.

Die Akropolis in Athen steht auf der einen Seite für die grosse Bedeutung der griechischen Philosophie, die im Vertrauen auf die Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Vernunft nach den letzten Gründen der Weltwirklichkeit gefragt hat, und auf der anderen Seite für die Entstehung der Demokratie als der geeignetsten Form des Zusammenlebens der Menschen in der Polis. Das Capitol in Rom stellt den Ort dar, wo die Tradition des römischen Rechts seinen Ausgang genommen hat, auf der alle in Europa entwickelten Rechtssysteme, auch das Kirchenrecht der Katholischen Kirche, gründen. Und der dritte Hügel, nämlich Golgotha vor den Toren Jerusalems verkündet das Kreuz Jesu Christi als Zeichen der grenzenlosen Liebe Gottes zu uns Menschen und der darin begründeten unbedingten Würde des einzelnen Menschen. Diese drei Hügel repräsentieren die tiefen Wurzeln in der Geschichte Europas, auf die Papst Benedikt XVI. in seiner grossen Rede vor dem Deutschen Bundestag im September 2011 hingewiesen hast: „Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas.“[1]

Führt man sich diese dreifache Wurzel der Identität Europas vor Augen, ergeben sich für unsere Fragestellung zunächst drei wichtige Einsichten. Bereits die Feststellung, dass sich der Golgotha-Hügel in Jerusalem nicht in jener Gegend befindet, die geographisch zu Europa gehört, das Heilige Land vielmehr Asien zugerechnet wird, weist darauf hin, dass es sich bei Europa in erster Linie nicht um eine geographische Grösse handelt, jedenfalls nicht in einem strengen Sinn. Man kann Europa nicht, wie beispielsweise Afrika, Asien und Australien, Nord- und Süd-Amerika, in geographischer Hinsicht präzis umschreiben. Denn die Fragen, wo Europa geographisch beginnt und wo es endet, sind kaum zu beantworten. Europa ist kein geographisch eindeutig umschreibbarer, sondern ein kultureller, historischer und geistiger Begriff. Europa ist eine geschichtlich gewordene Wirklichkeit und eine historisch gewachsene Werte- und Schicksalsgemeinschaft und wird nur als solche Zukunft haben können.

Europa ist zweitens dadurch geworden, dass die drei genannten Wurzeln im Christentum zusammengewachsen sind. Europa ist durch das Christentum Europa geworden. Die Geschichte Europas ist mit der Geschichte des Christentums unlösbar verbunden, und das Christentum gehört zur europäischen Identität. Dieser Realität kann jeder begegnen, der Europa durchquert und beispielsweise von Estland nach Gibraltar reist. Er wird dabei den unterschiedlichsten Völkerschaften mit sehr verschiedenen Sprachen begegnen, aber er wird in allen grossen und alten Städten Kathedralen und überall das Zeichen des Kreuzes finden. Wer sich in der Geschichte Europas auch nur ein wenig auskennt, kann die christlichen Wurzeln Europas nicht leugnen.

Von daher ist es drittens zu verstehen, dass die Bildrede üblich geworden ist, dass Europa eine Seele hat und dass seine Seele der christliche Glaube ist.[2] Dieses Bild hat bereits der frühere Präsident der europäischen Kommission, Jacques Delors, geprägt. An dieses Wort hat Papst Franziskus in seinen grossen Reden in Strasbourg im Jahre 2014 erinnert, indem er betonte, Europa müsse seine Seele wiederentdecken. In gleicher Sinnrichtung hat bereits der ehemalige Wiener Erzbischof, Kardinal Franz König, das weise Wort geprägt: „Europa kann nur bestehen, wenn es klar um seine geistigen Fundamente weiss. Ein Europa ohne geistige Ordnung wird zum Spielball der Mächte.“ Dass Europa ohne geistige Orientierung oder bei geistiger Umnachtung zum Spielball politischer Mächte werden kann, hat das vergangene Jahrhundert in grausamer und blutiger Weise gezeigt. In der Zwischenzeit sind weitere Bewährungsproben für die europäische Seele hinzugekommen. Dass Europa ohne geistige Orientierung zum Spielball auch ökonomischer Mächte werden kann, dies haben wir in den vergangenen Jahren, vor allem während der grossen Finanzkrise, drastisch erfahren, und dies hat in der Corona-Krise eine neu, bisher nie dagewesene Zuspitzung erfahren. Auch in kultureller Hinsicht steht Europa vor brisanten Herausforderungen, wenn wir beispielsweise an den Ansturm von Millionen von Flüchtlingen aus anderen Kultur- und Religionskreisen denken. Da gelingende Inkulturation und Integration nur auf der Grundlage einer eigenen Identität und ihr zugehörender verpflichtender Werte möglich ist, braucht Europa dringend eine Rückbesinnung auf die tragfähigen Fundamente seiner Identität.[3]

 

2. Die christlichen Werte in der Identität Europas

Wir stehen damit vor den elementaren Fragen, worin die christlichen Wurzeln Europas inhaltlich genauer bestehen, wie es in der Gegenwart um sie steht und wie sie in den heutigen europäischen Gesellschaften revitalisiert werden können. Auch im Blick auf diese Herausforderung hat Papst Benedikt XVI. vor dem Deutschen Bundestag eine klare Wegweisung gegeben: Die Identität Europas „hat im Bewusstsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkennung der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen, Masstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.“ Das grosse Erbe des Christentums in der europäischen Geschichte lässt sich von daher in drei Prinzipien zusammenfassen, die im Gegenzug zu gefährlichen Entwicklungen heute zum Tragen gebracht werden müssen, nämlich die Prinzipien der Divinität, der Humanität und der personalen Sozialität.

 
a) Prinzip der Divinität: Gegen neue Götterdämmerungen

Blicken wir zunächst auf den Golgotha-Hügel in Jerusalem und das dort begründete Prinzip der Divinität. Mit diesem Prinzip, genauer mit dem Bekenntnis zu Gott als Schöpfer, Erlöser und Vollender der Welt bringt das Christentum seine grundlegende Überzeugung zum Ausdruck, dass Menschen und Gesellschaften ohne ein transzendentes Fundament, ohne Beziehung zum Schöpfergott nicht wirklich gedeihen können. Das Prinzip der Divinität findet seinen deutlichsten Ausdruck im Ersten Gebot des Dekalogs, nämlich im Gebot der Ehrfurcht gegenüber Gott, dem Schöpfer der Welt. Denn wer das Gottsein Gottes erkennt und anerkennt und sich vor ihm zur Rechenschaft verpflichtet weiss, ist am ehesten davor geschützt, jenen heimlichen und unheimlichen Götterdämmerungen zu verfallen, die im persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Leben immer dann auftreten, wenn irdische und weltliche Wirklichkeiten an die Stelle Gottes gesetzt und damit vergöttert werden.

Mit einer erschütternden Eindeutigkeit hat diese Einsicht im Jahre 1927 der deutsche Maler Max Beckmann zum Ausdruck gebracht, als er seine Vision mit den Worten ausgesprochen hat: „Wenn wir uns nicht zu dem Glauben bekennen wollen, einmal im Verlauf der Entwicklung… selber Gott, d.h. selber frei zu werden,… wird das Ganze der Menschheit… eine Farce bleiben…. Jetzt wollen wir an uns selbst glauben. Ein jeder Einzelne ist mitverantwortlich an der Entwicklung des Ganzen, um selbst Gott zu sein. Auf nichts sich mehr verlassen als auf sich selbst.“[4] Dieser Traum, selbst an die Stelle Gottes zu treten, ist im vergangenen Jahrhundert für uns freilich zum Albtraum geworden. Denn die Geschichte hat gezeigt, dass die schlimmsten Untaten immer dann aufgetreten sind, wenn irdische Wirklichkeiten wie Blut und Boden, Nation und Parteidoktrin die Stelle Gottes einnehmen und damit vergöttert werden. Es muss bleibend zu denken geben, dass die schrecklichsten Massenmorde in der so genannten aufgeklärten europäischen Neuzeit im Namen von antichristlichen und neuheidnischen Ideologien wie des Stalinismus und des Nationalsozialismus verübt worden sind.

Letzterer hat mit seinem primitiven rassistischen Antisemitismus zusammen mit dem Judentum auch die jüdische Wurzel im Christentum vernichten wollen. Denn der Nationalsozialismus war von der Überzeugung getragen, der christliche Glaube, zumal der katholische, sei eine jüdische und römische Verfremdung des exzeptionellen germanischen Wesens, von der das Deutsche Volk befreit werden müsse, damit hinter der erbärmlichen Erniedrigung des Menschen durch die christliche Demut das Grosse des Germanischen wieder zur Geltung gebracht werden könne. Des eigentlichen Unwesens des Nationalsozialismus wird man deshalb nur ansichtig, wenn man ihn als eine germanische Pseudoreligion versteht, wie sie in den veröffentlichten Tagebüchern Goebbels unmissverständlich deutlich geworden ist, in denen er über Hitler geschrieben hat: „Der Führer ist tief religiös, aber ganz antichristlich. Er sehe im Christentum ein Verfallssymptom, eine Abzweigung der jüdischen Rasse, eine Absurdität, der er allmählich auf allen Gebieten das Wasser abgraben werde. Er hasst das Christentum, das den freien, heilen, antiken Tempel in einen düsteren Dom, mit einem schmerzverzerrten, gekreuzigten Christus verwandelt habe.“[5]

In diesem schrecklichen Sinn hat das Zwanzigste Jahrhundert den Basalsatz des christlichen Glaubens mehr als bestätigt, dass Humanität, die nicht in der Divinität begründet ist, nur allzu schnell in Bestialität umschlägt. Denn dort, wo Gott aus dem Bewusstsein verdrängt wird, wird der Mensch keineswegs frei, sondern gerät er erst recht in die Gefangenschaft von Götzendiensten und schrecklichen Ideologien. Deren Abwehr setzt umgekehrt die öffentliche Erwähnung Gottes und das Bewusstsein der Verantwortung aller im persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Leben vor Gott voraus.

Angesichts dieser tragischen Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts in Europa muss man es bedauern, dass man bei der Erarbeitung der Präambel des Reformvertrags der Europäischen Union nicht den Überzeugungen der Gründungsvätern eines neuen Europa wie Konrad Adenauer, Robert Schumann, Alcide de Gasperi und Jean Monnet gefolgt ist, dass nach der Verwüstung der europäischen Landschaft durch die schrecklichen Terrorherrschaften ein Wiederaufbau Europas nur gelingen würde, wenn sich Europa auf seine eigenen Ursprünge und damit auch auf seine christlichen Wurzeln zurückbesinnen würde.[6] Demgegenüber wurde bei der Erarbeitung der Präambel kein verpflichtender Hinweis auf die Transzendenz Gottes vorausgesetzt. Dies ist umso mehr zu bedauern, als auch in einem weltanschaulich neutralen Staat die Erwähnung Gottes im Sinne einer „nominatio Dei“, freilich nicht einer „invocatio Dei“ angebracht ist. Der Hinweis auf Gott in einer Verfassungspräambel erfolgt ja nicht, um die Bürger auf ein bestimmtes Gottesverständnis zu verpflichten, sondern in dem Sinn, dass der Staat sich selbst in seine ihm eigenen säkularen Grenzen verweist, wie der katholische Dogmatiker Karl-Heinz Menke prägnant hervorhebt: „Der einzelne Mensch mit seiner unantastbaren Freiheit und Würde ist nicht um des Staates willen da, sondern umgekehrt der Staat für den Schutz und die Wahrung der personalen Rechte des je Einzelnen seiner Bürgerinnen und Bürger. Deshalb und nur deshalb sollte sich jeder Staat durch die ausdrückliche Unterscheidung seiner selbst von Gott relativieren.“[7] Statt solche Verantwortung der europäischen Politik vor Gott auszusprechen, hat die Europäische Union in der Vertragspräambel sowohl einen Gottesbezug als auch eine anerkennende Nennung der christlichen Wurzeln der europäischen Identität unterlassen. Von daher stellt sich die besorgte Frage, ob die öffentliche Erwähnung Gottes in Europa nicht mehr mehrheitsfähig ist und ob man daraus den Schluss ziehen muss, dass das künftige Europa noch entschiedener auf einer atheistischen oder agnostizistischen Basis errichtet werden soll, die freilich auch nicht weltanschaulich neutral ist, sondern ihrerseits eine spezifische Weltanschauung darstellt.

Europa unternimmt jedenfalls seit einiger Zeit ein ebenso einmaliges wie schwieriges Experiment, hinsichtlich dessen niemand voraussagen kann, wie es ausgehen wird. Denn Europas Versuch, Gesellschaften und eine Gemeinschaft von Staaten zu bauen, die von einem religiösen Fundament prinzipiell absehen, stellt ein kulturgeschichtliches Novum dar, und zwar so sehr, dass sich das Urteil aufdrängt, Europa sei der einzig wirklich säkularisierte Kontinent. Von daher kann man nur hoffen, dass die herausfordernde Frage nach der Gegenwart des Gottesbewusstseins in Europa zumindest wach gehalten und nicht als bereits historisch verbraucht betrachtet wird. Denn Europa mit dem Euro als der vereinheitlichen Währung allein wird keine Zukunft haben; Europa braucht vielmehr auch eine geistige und geistliche Leitwährung[8], die es seit seinen Ursprüngen im christlichen Glauben hat, wie Papst Benedikt XVI. mit Recht betont hat: „Europa ist überhaupt erst durch die Begegnung mit Christus entstanden. Wo es sich dieser Begegnung entzieht, löst es sich auf.“[9]

 
b) Prinzip der Humanität: Gegen Erosionen der Menschenwürde

Aus dem Prinzip der Divinität folgt von selbst das Prinzip der Humanität, wie es dem Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe als Summe des biblischen Glaubens entspricht. Bereits die historische Feststellung, dass aus dem christlichen Glauben an den Schöpfergott die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde, die jedem einzelnen Menschen zukommt, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht und letztlich die Idee der Menschenrechte entwickelt worden sind, dokumentiert, dass das Prinzip der Divinität dem Menschen, der Anerkennung seiner Würde und dem Schutz seines Lebens zugute kommt. Die jeden Menschen auszeichnende Würde beruht genauer auf seiner Zuordnung zu Gott, zu dessen Ebenbild er berufen ist. Durch diese Zuordnung zu Gott steht jeder Mensch unter dem Vorbehaltsrecht Gottes und ist sein Leben unantastbar, so dass die Menschenwürde ohne Anerkennung Gottes letztlich kein tragfähiges Fundament mehr hätte. Diesbezüglich hat der evangelische Theologe Wolfhart Pannenberg mit Recht angemerkt, „dass der Begriff der Menschenwürde nicht ohne weiteres ablösbar sein dürfte von dem Begründungszusammenhang der christlich-abendländischen Überlieferung“[10].

Der unlösbare Zusammenhang zwischen beiden Prinzipien der Divinität und Humanität zeigt sich in negativer Hinsicht auch an dem Sachverhalt, dass der radikalen Krise des Gottesbewusstseins, von der die europäischen Gesellschaften weithin befallen sind, eine ebenso gefährliche Krise des Menschenbildes auf dem Fuss folgt, und zwar mit einer inhärenten Logik. Wenn nämlich gemäss biblisch-christlicher Überzeugung der Mensch das Ebenbild Gottes ist, das Gott hütet wie seinen eigenen Augapfel, dann nagt das Verdunsten des Gottesbewusstseins in der heutigen gesellschaftlichen Öffentlichkeit in einer gefährlichen Weise auch an der Würde des menschlichen Lebens: Wo Gott aus dem gesellschaftlichen Leben verabschiedet oder mit überstrapazierter so genannter „Toleranz“ hinauskomplimentiert wird, besteht höchste Gefahr, dass auch die Würde des Menschen mit Füssen getreten wird. Auf diesen Schicksalszusammenhang hat der katholische Theologe Johann B. Metz mit Recht seinen warnenden Finger gelegt: „War es nicht dieses späte Europa, in dem erstmals in der Welt der <Tod Gottes> öffentlich verkündet wurde? Und ist es nicht dieses Europa, in dem wir seit geraumer Zeit auf den <Tod des Menschen>, so wie wir ihn aus unserer bisherigen Geschichte kennen, vorbereitet werden?“[11]

Die Symptome des Schicksalszusammenhangs, dass das Verschweigen Gottes in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit dem Menschen keineswegs zu gute kommt, sind heute mit Händen zu greifen. Das deutlichste Symptom dafür muss man im Ungleichgewicht zwischen dem moralisch-rechtlichen Schutz von Sachen und demjenigen des menschlichen Lebens diagnostizieren. Der Schutz von Sachen ist in der heutigen Gesellschaft erheblich eindeutiger geregelt als der Schutz des menschlichen Lebens in seinen verschiedenen Phasen und vielfältigen Variationen. Autos sind beispielsweise besser geschützt als die Ungeborenen und Sterbenden, so dass man dem katholischen Pastoraltheologen Paul M. Zulehner zustimmen muss, wenn er zu bedenken gibt, dass man in der heutigen Welt das Glück haben müsste, „als Auto zur Welt zu kommen“[12].

Wenn wir uns zudem die anthropologischen Revolutionen vor Augen führen, die bei den rasanten Entwicklungen der medizinischen Bio-Wissenschaften festzustellen sind, dürfte man bald zur Überzeugung gelangen, dass diese grossen Herausforderungen nicht mehr allein ethisch bewältigt werden können, sondern nur noch strikt Theo-logisch und damit im Licht des christlichen Glaubens an den Schöpfergott.[13] Die heutigen bioethischen Fragestellungen, die europaweit geführten Euthanasiedebatten und die radikalen Infragestellungen des grundlegenden Gedankens der Menschenwürde im öffentlichen Diskurs bringen es an den Tag, dass die Würde des menschlichen Lebens von seinem Beginn bis zu seinem natürlichen Ende ohne Transzendenzbezug kaum mehr erkannt, geschweige denn geschützt werden kann. Es wird immer offensichtlicher, dass die einzig wirklich tragfähige Fundierung der Personwürde des Menschen und der sie charakterisierenden Unantastbarkeit in einer transzendenten Begründung liegt, wie Wolfhart Pannenberg entschieden betont hat: Die Personwürde des Menschen „gilt dann, weil in der Bestimmung des Menschen begründet und nicht in irgendwelchen vorfindlichen Merkmalen auch für die Menschen, die den Gebrauch ihrer Vernunft noch nicht oder nicht mehr haben.“[14]

 
c) Prinzip der sozialen Personalität: Gegen kollektivistische und individualistische Extremismen

Der christlichen Überzeugung von der unveräusserlichen Menschenwürde liegt das Verständnis des Menschen als Person zugrunde, das seinerseits zum grossen Erbe des christlichen Glaubens in der Menschheitsgeschichte gehört. Denn der für das Verständnis des Menschen fundamentale Gedanke des Personseins hat seinen Ursprung im christlichen Glauben an den Dreieinen Gott und ist deshalb wesentlich durch die Kategorie der Beziehung charakterisiert.[15] Von daher ergibt sich das dritte Grundprinzip der sozialen Personalität von selbst. In diesem Prinzip ist die grundlegende Spannung zwischen Individualität und Sozialität eingeschrieben, mit der sich die Herausforderung stellt, wie sich die berechtigten Anliegen der einzelnen Individuen und die Notwendigkeit von sozialer Verantwortung miteinander verbinden und versöhnen lassen, ohne einem egoistischen Individualismus oder einem sozialistischen Kollektivismus zu verfallen.

In der Geschichte der Menschheit zeigt sich freilich bis auf den heutigen Tag, dass sie sich immer wieder zwischen diesen beiden Extremen bewegt. Nach dem historischen Scheitern des sozialistischen Kollektivismus hat in der jüngeren Vergangenheit der Individualismus bei vielen Menschen eine neue Anziehungskraft erhalten. Mit dem elektrisierenden Stichwort der individuellen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verbindet sich leicht die Mentalität, der Mensch vermöge sich selbst seine eigene Individualität nur zu garantieren und zu erhalten, wenn er sich aus den gesellschaftlichen Verhältnissen loslöst und sich in den geschützten Raum einer reinen Privatheit zurückzieht. Dabei machen die Menschen freilich immer mehr die Erfahrung, dass der Rückzug in die Privatheit gerade nicht integrale Freiheit und das erwünschte Glück beschert, sondern das bedrückende und entfremdende Gefühl der Einsamkeit provoziert, wie der amerikanische Diagnostiker Philip Slater sensibel feststellt: „Wir suchen mehr und mehr Privatheit und fühlen uns mehr und mehr entfremdet und allein gelassen, wenn wir sie erreichen.“[16] Diese Paradoxie bringt es an den Tag, dass sich auf der einen Seite der historisch gescheiterte Kollektivismus nicht mit einem neuen Individualismus überwinden lässt, dass aber auf der anderen Seite auch der Kollektivismus keine Lösung der Probleme des modernen Individualismus bieten kann. Der Individualismus und der Kollektivismus stellen sich vielmehr als die zwei einander entgegengesetzten Extreme heraus, die sich freilich darin berühren, dass beide das Wesen des Menschen als Person von Grund auf verfehlen, die nur in personaler Verbundenheit und sozialer Verbindlichkeit adäquat leben kann.

Von daher erklärt sich die in den europäischen Gesellschaften neu aufkommende Sehnsucht nach einer Versöhnung von individueller Freiheit und sozialer Gemeinschaftlichkeit und damit nach einem echten und ursprünglichen Menschsein, das sich nur in Gemeinschaft mit anderen Menschen verwirklichen kann. Denn Individualität und Sozialität sind gleichursprüngliche Wirklichkeiten, die es miteinander zu versöhnen gilt und die gleichsam die anthropologische Basis für das Gleichgewicht von Autonomie und Gemeinschaft im Projekt der Vereinigten Staaten von Europa darstellen. Ein solches Projekt kann freilich nur gelingen, wenn jenseits von egoistischem Individualismus und sozialistischem Kollektivismus die Freiheit der Individuen und die Notwendigkeit von sozialer Verantwortung in einer kommunikativen Freiheit versöhnt sind, die die Ehrenbezeichnung „Solidarität“ trägt.[17]

Damit stellt sich die entscheidende Frage, wie es in den europäischen Gesellschaften um die lebensnotwendige Ressource „Solidarität“ bestellt ist. Diesbezüglich haben in den vergangenen Jahrzehnten bedeutende kulturdiagnostische Studien das Ergebnis zu Tage gefördert[18], dass auf der einen Seite ein enger Zusammenhang zwischen dem Freiheitsstreben des modernen Menschen und einer weitgehenden Tendenz zur Desolidarisierung in dem Sinne besteht, dass der Freiheitsanspruch des heutigen Menschen im Kontext mangelnder Solidarität aufkommt und massgeblich durch das moderne Lebenskonzept einer angestrengten Diesseitigkeit gefördert wird, und dass auf der anderen Seite die den unsolidarischen Individualismus am meisten hemmende und Solidarität fördernde Kraft in der praktizierten Religion besteht. Aus diesen soziologischen Feststellungen hat der katholische Pastoraltheologe Paul M. Zulehner den wichtigen Schluss gezogen, dass Solidaritätsquellen zu erschliessen vor allem bedeuten müsse, „den Menschen im lebendigen Gott zu verwurzeln und aus dem Gefängnis purer Diesseitigkeit freizumachen“: „Solidarität entsteht vor allem im Umkreis der Auferstehungshoffnung.“[19]

 

3. Neuzeitliche Säkularisierung und ökumenische Verantwortung in Europa

Mit dieser Schlussfolgerung kehren wir an den Beginn unserer Besinnung auf die christlichen Wurzeln Europas zurück und können nun sehen, wie die drei Prinzipien der Divinität, der Humanität und der personalen Sozialität unlösbar zusammenhängen. Von daher stellt sich erst recht die Frage, wie die christlichen Wurzeln zum Tragen gebracht und die in ihnen erkannten grundlegenden Werte revitalisiert werden können in den heutigen europäischen Gesellschaften, die sich als säkularisiert verstehen und sich deshalb einem Lebensgefühl verpflichtet wissen, das sich von der Religion überhaupt und vom Christentum im Speziellen emanzipiert hat. Um eine tragfähige Antwort auf diese Herausforderung zu finden, sind wir Christen gut beraten, wenn wir zunächst im Sinne einer eigenen Situationsvergewisserung in den heutigen Gesellschaften unsere eigene Mitschuld an der in ihnen prekär gewordenen Situation der Religion eingestehen.

Wir Christen müssen vor allem erkennen und bekennen, dass die in den neuzeitlichen Gesellschaften Europas dominant gewordene Säkularisierung der Religion, genauer der Prozess der Entkleidung des christlichen Glaubens von seiner Sendung für den gesellschaftlichen Frieden im Sinne der Grundlegung, Erhaltung und Erneuerung der gesellschaftlichen Lebensordnung, als zwar ungewollte und unbeabsichtigte, aber tragische und verhängnisvolle Folgewirkung der abendländischen Kirchenspaltung im 16. Jahrhundert, als „sozusagen <hausgemachte> Privatisierung des Christentums“ [20] zu verstehen ist. Denn die Emanzipation der neuzeitlichen Kulturwelt zunächst von den Gegensätzen der unter sich zerstrittenen Konfessionskirchen und letztlich vom Christentum überhaupt muss als Ergebnis und Erschöpfungsende der Kirchenspaltung und der anschliessenden blutigen Konfessionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts, besonders des Dreissigjährigen Krieges, beurteilt werden. Weil in deren tragischen Folge das Christentum historisch nur noch greifbar gewesen ist in der Gestalt der verschiedenen Konfessionen, die einander bis aufs Blut bekämpft haben, musste diese historische Konstellation zur unvermeidlichen Konsequenz haben, dass der konfessionelle Friede um den für das Christentum teuren Preis erkauft werden musste, dass von den konfessionellen Differenzen und, in Fernwirkung, vom Christentum überhaupt abgesehen wurde, um dem gesellschaftlichen Frieden eine neue Basis geben zu können, wie der evangelische Ökumeniker Wolfhart Pannenberg diagnostiziert hat: „Wo die Säkularisierung der Neuzeit die Form einer Entfremdung vom Christentum angenommen hat, da ist das nicht als ein äusserliches Schicksal über die Kirchen gekommen, sondern als die Folgen ihrer eigenen Sünden gegen die Einheit, als Folge der Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts und der unentschiedenen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die den Menschen in konfessionell gemischten Territorien keine andere Wahl liessen, als ihr Zusammenleben auf einer von den konfessionellen Gegensätzen unberührten gemeinsamen Grundlage neu aufzubauen.“[21]

Diese Diagnose impliziert umgekehrt, dass die Wiedergewinnung der öffentlichen Sendung des Christentums in den säkularisierten Gesellschaften Europas heute die Überwindung der ererbten Spaltungen in einer wiedergefundenen Einheit der Christen voraussetzt. Wenn die neuzeitliche Säkularisierung historisch nicht unwesentlich auch in der europäischen Kirchenspaltung und ihren gesellschaftlichen Folgen begründet liegt, dann kann das Christentum in Europa nur dann wieder eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung erlangen, wenn die Kirchenspaltung überwunden sein wird. Die Ökumenische Bewegung kann deshalb nicht ohne Konsequenzen für das Verhältnis der säkularen Kultur der Moderne zum Thema der Religion überhaupt und des Christentums im Besonderen sein. Wesentliche Gründe, die in historischer Sicht zur Abwendung der säkularen Kultur von der Religion und den christlichen Kirchen geführt haben, könnten jedenfalls gegenüber einer Gestalt des Christentums, das die Spaltungen überwunden haben wird, nicht mehr geltend gemacht werden. Das Christentum in Europa wird deshalb erst durch die Überwindung seiner Spaltungen befähigt sein, „dem Säkularismus gegenüber glaubwürdig die Wahrheit der Religion geltend zu machen“[22], und zwar in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit von heute.

Die Erinnerung an diese komplexen historischen Hintergründe der heutigen gesellschaftlichen Situation des Christentums in Europa ist auch geeignet, auf die grundlegende Bedeutung der Ökumenischen Bewegung für das Zusammenleben der Menschen im modernen Europa hinzuweisen. Bereits bei ihrer Entstehung im 20. Jahrhundert, das als eines der grausamsten und unmenschlichsten Jahrhunderte in die Geschichte eingegangen ist, ist die Ökumenische Bewegung wie ein Leuchtturm im Roten Meer des von Blut getränkten Europa aufgeschienen. Die epochale Bedeutung der Ökumenischen Bewegung ist sodann in der Katholischen Kirche vollends mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil erkannt worden, mit dem sie in offizieller Weise in die Ökumenische Bewegung eingetreten ist, die das Konzil ausdrücklich auf die „Einwirkung der Gnade des Heiligen Geistes“ zurückgeführt hat[23]. Die Einsicht in die dringende Notwendigkeit der Ökumenischen Bewegung für eine glaubwürdige Wahrnehmung der Sendung der Christen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ist dabei von der Hoffnung getragen, die Papst Johannes Paul II. mit der bewegenden Zuversicht ausgesprochen hat, dass nach dem ersten Jahrtausend der Christentumsgeschichte, das die Zeit der ungeteilten Kirche gewesen ist, und nach dem zweiten Jahrtausend, das im Osten wie im Westen zu tiefen Spaltungen in der Christenheit geführt hat, das dritte Jahrtausend die grosse Aufgabe zu bewältigen haben wird, die verloren gegangene Einheit wieder zu gewinnen, und dass alle Christen bereit sein müssen, „den Weg jener Einheit einzuschlagen, für die Christus am Vorabend seines Leidens gebetet hat. Der Wert dieser Einheit ist enorm. Es geht gewissermassen um die Zukunft der Welt, es geht um die Zukunft des Gottesreiches in der Welt“[24].

In diesem Sinn ist die Christenheit heute herausgefordert, in mutiger Weise nach ihrer ökumenischen Verantwortung in den säkularisierten Gesellschaften Europas und zunächst nach ihrer eigenen Friedensfähigkeit und Versöhnungsbereitschaft zu fragen. Denn nur wenn es gelingt, dass sich die christlichen Kirchen versöhnen und diesen notwendigen Prozess der historischen Reinigung gehen, vermögen sie wirksam und in glaubwürdiger Weise für die Erhaltung, Förderung und Erneuerung des gesellschaftlichen Friedens zu arbeiten. Nur eine in sich selbst geeinte Christenheit kann sich als für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen in Frieden und Gerechtigkeit, in Einheit und Toleranz exemplarisch erweisen. Und nur eine ökumenisch versöhnte Christenheit vermag jene Sendung wahrzunehmen, die das Zweite Vatikanische Konzil der Kirche zugewiesen hat, nämlich in einer von Spaltungen, Feindschaften und unversöhnten Interessengegensätzen so sehr zerrissenen Welt als „Sakrament, das heisst Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ zu leben und zu wirken[25]. Zeichen und Werkzeug für die Einheit der Menschheit kann die Christenheit in unserer Welt aber nur sein, wenn sie in sich selbst die Einheit wiederfindet. Von daher darf und muss man im Prozess der Ökumenischen Wiedervereinigung den bedeutsamsten und weitreichendsten Beitrag des gegenwärtigen Christentums zur politischen Zukunft der Menschheit und insbesondere der der säkularen Gesellschaften in Europa wahrnehmen.

 

4. Positive Laizität gegen säkularistischen Laizismus

Von daher stellt sich abschliessend erneut die Frage, wie das Christentum seine Sendung in den säkularisierten Gesellschaften im heutigen Europa wahrnehmen soll und kann. Auf dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen versteht es sich zunächst von selbst, dass kein realistischer Weg hinter die neuzeitliche Säkularisierung und die mit ihr verbundene gesellschaftliche Ausdifferenzierung zurückführen kann. Denn zu den elementaren und vom Christentum selbst geförderten Errungenschaften der neuzeitlichen Gesellschaften gehört wesentlich auch die Tatsache, dass das adäquate Verhältnis von Staat und Kirche immer deutlicher und konsequenter mit dem Vorzeichen einer weitgehenden Trennung verstanden und gestaltet worden ist, die freilich eine loyal-kritische Partnerschaft und konstruktive Zusammenarbeit zwischen beiden nicht ausschliesst, sondern vielmehr ermöglicht.[26]

Von seinem Glaubensverständnis her muss und kann der Christ deshalb ein positives Verhältnis zu einer gesunden Laizität des Staates haben. Vor allem in der heutigen geschichtlichen Situation, in der sich auch die verschiedenen Kulturen immer mehr verflechten, ist eine erneute Reflexion über den wahren Sinn von Laizität angezeigt, und zwar in zweifacher Richtung: Auf der einen Seite ist und bleibt im christlichen Denken die Unterscheidung zwischen dem politischen und dem religiösen Bereich grundlegend, um die Religionsfreiheit der Bürger und die Verantwortung des Staates ihr gegenüber zu ermöglichen. Auf der anderen Seite braucht es aber auch ein neues Bewusstsein von der unersetzbaren Funktion der Religion für die Gewissensbildung der Menschen und für den Beitrag, den die Religion zusammen mit anderen Institutionen für die Bildung und Vertiefung eines ethischen Grundkonsenses innerhalb der Gesellschaft erbringen kann, worauf der Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde eindringlich hingewiesen hat. Da in seiner Sicht der säkulare und weltanschaulich neutrale Staat selbst nicht mehr über seine eigenen Grundlagen verfügt, ist er auf die öffentliche Erneuerung von religiösen und ethischen Orientierungen angewiesen und muss er letztlich „aus jenen inneren Antrieben und Bildungskräften“ leben „die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt“[27]. Um ihrer eigenen Existenz und Zukunft willen sind deshalb die neuzeitlichen Gesellschaften auf religiöse Gruppierungen wie die Kirchen angewiesen, die die fundamentalen Werte, Normen und Rechte, die sich in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit immer wieder in verhängnisvollen Prozessen der Erosion befinden, aus ihrer letzten Verankerung im transzendenten Bereich schützen und das religiös-kulturelle Erbe wach halten, aus dem auch und gerade die säkularen und weltanschaulich neutralen Gesellschaften leben können müssen.

In diesem doppelten Sinn kann sich auch der Christ zu einer gesunden Laizität positiv verhalten. Auf der anderen Seite ist er dann aber auch berechtigt, ein kritisches Wort einzulegen gegen die schwerwiegenden Folgewirkungen eines prinzipiellen Laizismus und Säkularismus, die sich vor allem in einem gebrochenen oder zumindest weithin ungeklärten Verhältnis der heutigen Gesellschaften zum Phänomen der Religion anzeigen. Denn in den heutigen Gesellschaften sind starke Tendenzen festzustellen, die Religion als einen gesellschaftlich irrelevanten oder, wie es in der Corona-Zeit zu sagen üblich geworden ist, nicht systemrelevanten Faktor zu betrachten und sie in noch vermehrtem Masse an den Rand des gesellschaftlichen Lebens abzudrängen.

Solche Tendenzen erweisen sich freilich gerade in multireligiös gewordenen Gesellschaften als anachronistisch und gefährlich. Denn nicht wenige Menschen mit anderen Religionsbekenntnissen, die bei uns leben, nehmen die eigentliche Bedrohung ihrer religiösen Identität gerade nicht im christlichen Glauben wahr, sondern in der weitgehenden Verdrängung Gottes aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein in unseren westlichen Gesellschaften. Die forcierte Säkularität und Profanität, die sich in den Gesellschaften Europas herausgebildet hat, ist den religiösen Kulturen ausserhalb Europas von Grund auf fremd; sie sind vielmehr zutiefst überzeugt, dass eine Welt ohne Gott keine Zukunft haben wird. Aus dieser Wahrnehmung muss man den Schluss ziehen, dass eine Gesellschaft, die sich dem Phänomen des Religiösen gegenüber verschliesst und seine Öffentlichkeit verbietet, im Grunde einen heute besonders notwendigen Dialog verweigert, wie Papst Benedikt XVI. in seiner berühmt gewordenen Vorlesung an der Universität Regensburg klar ausgesprochen hat: „Eine Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den Bereich der Subkulturen abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen.“[28] Auch um des friedlichen Zusammenlebens der Menschen in unseren Gesellschaften willen muss die Religion ein öffentliches Thema sein oder wieder werden.

Gegen die Tendenzen einer weitgehenden Privatisierung der Religion sich zur Wehr zu setzen, hat das Christentum aber auch um seiner selbst willen das Recht. Die christlichen Kirchen verlangen vom Staat gewiss keine Privilegien - sie sollten es jedenfalls nicht tun -, wohl aber die Gewährung des Rechts, in Freiheit ihre Sendung in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit erfüllen zu können. Da es im Christentum aufgrund seines eigenen Glaubensverständnisses für eine rein private Religion prinzipiell keinen Platz gibt, gehört sein Öffentlichkeitsauftrag zu seinem Wesen.

Damit die christlichen Kirchen ihren ureigenen Öffentlichkeitsauftrag in glaubwürdiger Weise einfordern können, sind sie berufen und herausgefordert, ihn in ökumenischer Gemeinschaft wahrzunehmen.[29] In dieser ökumenischen Verantwortung hat auch und gerade das Christentum selbst einen wesentlichen und unabdingbaren Beitrag zu leisten, damit die christlichen Wurzeln Europas auch in Zukunft diesen Kontinent prägen werden und Europa seine geistige Identität und seine Seele wieder entdeckt und um sie weiss. Um es nochmals mit den Worten von Kardinal Franz König zu sagen: „Europa kann nur bestehen, wenn es um seine geistigen Fundamente weiss. Ein Europa ohne geistige Ordnung wird zum Spielball der Mächte.“ Diese Weisheit hat auch heute nichts an ihrer Aktualität eingebüsst. Denn die Zukunft Europas liegt in der Verantwortung von uns allen.

 

 

 

[1]  Benedikt XVI., Besuch des Deutschen Bundestages im Berliner Reichstagsgebäude am 22. September 2011.

[2]  Vgl. R. Voderholzer, Die Seele Europas ist der christliche Glaube. Prägung des Abendlandes – auch in Zukunft? in: Ders., Zur Erneuerung der Kirche. Geistliche Impulse zu aktuellen Herausforderungen (Regensburg 2020) 115-127.

[3]  Vgl. K. Koch, Christsein in einem neuen Europa. Provokationen und Perspektiven (Freiburg / Schweiz 1992).

[4]  M. Beckmann, Die Realität der Träume in den Bildern. Schriften und Gespräche 1911 bis 1950 (München 1990) 40.

[5] Vgl. H. G. Hoeckerts, Die Goebbels-Tagebücher 1932-1941. Eine neue Hauptquelle zur Erforschung der nationalsozialistischen Kirchenpolitik, in: D. Albrecht (Hrsg.), Politik  und Konfession. Festschrift für Konrad Repgen zum 60. Geburtstag (Berlin 1983) 359-392.

[6]  Vgl. Pontificio Comitato di Scienze Storiche (Ed.), Padri dell´Europa. Alle radici dell´Unione Europea (Città del Vaticano 2010).

[7]  K.-H. Menke, Christsein als Stellvertretung, oder: Die Patronin Europas, in: Ders., Das unterscheidend Christliche. Beiträge zur Bestimmung seiner Einzigkeit (Regensburg 2015) 226-252, zit. 228.

[8]  Vgl. R. Weimann, Europäische Identität. Zwischen Willkommens-, Wohlstands- und Leitkultur, in: Die Neue Ordnung 70 (1/2016) 25-33.

[9]  J. Ratzinger, Der Heilige Geist - Kraft der Vereinigung, in: Ders., Predigten = Gesammelte Schriften. Band 14/1 (Freiburg i. Br. 2019) 598-602, zit. 600.

[10]  W. Pannenberg, Christliche Wurzeln des Gedankens der Menschenwürde, in: W. Kerber (Hrsg.), Menschenrechte und kulturelle Identität (München 1991) 61-76, zit. 75.

[11]  F.-X. Kaufmann / J. B. Metz, Zukunftsfähigkeit. Suchbewegungen im Christentum (Freiburg i. Br. 1987) 130.

[12] P. M. Zulehner, Ein Obdach der Seele. Geistliche Übungen – nicht nur für fromme Zeitgenossen (Düsseldorf 1994) 54.

[13]  Vgl. R. Weimann, Bioethik in einer säkularisierten Gesellschaft. Ethische Probleme der PID (Paderborn 2015), bes. 164-194: Viertes Kapitel: Die PID und das Menschenbild.

[14]  W. Pannenberg, Christliche Rechtsüberzeugungen im Kontext einer pluralistischen Gesellschaft, in: Ders., Beiträge zur Ethik (Göttingen 2004) 55-58, zit. 60.

[15]  Vgl. W. Pannenberg, Person und Subjekt, in: Ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze. Band 2 (Göttingen 1980) 80-95; J. Ratzinger, Zum Personverständnis in der Theologie, in: Ders., Dogma und Verkündigung (München 1973) 205-223.

[16]  Ph. Slater, The pursuit of loniless. American culture at the breaking point (Boston 1976) 13.

[17]  Vgl. K. Koch. Solidarität. Lebenselixier christlichen Glaubens (Freiburg / Schweiz 1998).

[18]  Vgl. P. M. Zulehner, Woraus Europa lebt und glaubt. Europäische Wertestudie (Düsseldorf 1993).

[19]  P. M. Zulehner, Religion und Autoritarismus. Inkulturation des Evangeliums in den Kontext der Freiheitlichkeit, in: Stimmen der Zeit 209 (1991) 597-608, zit. 604.

[20]  J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft (Mainz 1977) 31.

[21]  W. Pannenberg, Einheit der Kirche als Glaubenswirklichkeit und als ökumenisches Ziel, in: Ders., Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze (Göttingen 1977) 201-210, zit. 201. Zum Ganzen vgl. Ders., Christentum in einer säkularisierten Welt (Freiburg i. Br. 1988).

[22]  W. Pannenberg, Die zukünftige Rolle von „Glauben und Kirchenverfassung“ in einer säkularisierten Welt, in: Ders., Beiträge zur Systematischen Theologie. Band 3: Kirche und Ökumene (Göttingen 2000) 234-244, zit. 243.

[23]  Unitatis redintegratio, Nr. 1; vgl. auch Nr. 4.

[24]  Johannes Paul II., Die Schwelle der Hoffnung überschreiten (Hamburg 1994) 178.

[25]  Lumen gentium, Nr. 1.

[26]  Vgl. K. Koch, Kirche und Staat in kritisch-loyaler Partnerschaft. Systematisch-theologische Überlegungen zu einem institutionalisierten Dauerkonflikt, in: Ders., Konfrontation oder Dialog? Brennpunkte heutiger Glaubensverkündigung (Freiburg/CH - Graz 1996) 148-172.

[27]  E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisierung, in: Ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte (Frankfurt a. M. 1991) 92-114, zit. 113. Vgl. dazu K. Lehmann, Säkularer Staat: Woher kommen das Ethos und die Grundwerte? Zur Interpretation einer bekannten These von Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: S. Schmidt und M. Wedell (Hrsg.), „Um  der Freiheit willen…“ Kirche und Staat im 21. Jahrhundert (Freiburg i. Br. 2002) 24-30.

[28]  Benedikt XVI., Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen. Vorlesung beim Treffen mit Vertretern der Wissenschaften im Auditorium Maximum der Universität Regensburg am 12. September 2006.

[29]  Vgl. K. Koch, Brauchen wir ein öffentliches Christentum? in: M. Delgado / A. Jödicke / G. Vergauwen (Hrsg.), Religion und Öffentlichkeit. Probleme und Perspektiven (Stuttgart 2009) 99-118.