DER KUSS DES FRIEDENS GOTTES MIT DER GERECHTIGKEIT[1]

 

Rom, 18. Marz 2019

 

Unter jüdischen Menschen pflegt man sich zu begrüssen mit dem Wort „Schalom – Friede“. Denn Schalom ist in der hebräischen Sprache in erster Linie ein Grusswort, und es zeigt, dass der Friede es zunächst mit unseren Beziehungen zu tun hat: mit meiner Beziehung zum Nächsten, mit meiner Beziehung zur Gemeinschaft, mit meiner Beziehung zur ganzen Schöpfung, mit meiner Beziehung zu mir selbst und in allen diesen vier Beziehungen mit meiner Beziehung zu Gott. Erst dort, wo diese Beziehungen gesund sind und leben, kann der Friede blühen.

Dies gilt vor allem vom Frieden mit Gott. Denn der Friede zwischen Menschen und Völkern kann letztlich nur bei Gott gesucht werden, und alle menschliche Sehnsucht nach Frieden findet ihr wahres Ziel in Gott. Der erste und der wichtigste Friede ist der Friede des Menschen mit Gott im eigenen Herzen. Er ist der wirkliche Friede, und alle anderen Friedensgestalten sind letztlich Spiegelungen dieses elementaren Gottesfriedens.

Dieser Wahrheit werden wir inne, wenn wir in die Katakomben unseres eigenen Herzens blicken und dabei feststellen müssen, wie viel Unfriede und Unversöhntheit in uns wuchern und ihre gefährlichen Metastasen bilden. In unserem Inneren entdecken wir, dass wir zuerst um den Frieden beten müssen. Denn das Gebet für den Frieden ist nicht etwas, das unserem Einsatz für den Frieden nachfolgt. Es verhält sich vielmehr umgekehrt, dass das Gebet allem Friedenbemühen voraus liegt. Nur der Mensch, der innere Befriedigung erfährt und im Frieden mit Gott lebt, kann jene Haltung haben, die auch dem Frieden unter den Menschen und den Völkern dient. Der Friede der Welt beginnt in der Tat im eigenen Herzen mit dem Frieden, den nur Gott geben kann. Gott selbst ist der Friede, und deshalb ist der Friede ein Geschenk.

Darin besteht die Grundüberzeugung des jüdisch-christlichen Glaubens, wie sie in Psalm 85 sehr tief zum Ausdruck kommt: Der Friede ist das kostbarste Geschenk des verheissenen Heils Gottes. Er ist aber an zwei Bedingungen gebunden, die im Psalm entfaltet werden.

Zunächst sagt er unmissverständlich, dass Gottes Heil, nämlich sein Friede, denen nahe ist, „die ihn fürchten“ (V 10). Wo Gott nicht in Ehren steht, dort kann auch kein Friede unter den Menschen blühen. Ob es auf Erden Frieden geben kann, entscheidet sich daran, ob Gott die Ehre zuteil wird. Nur wenn wir Menschen Gott geben, was Gottes ist, nämlich die ihm geziemende Ehre, wird auch uns Menschen gegeben, was des Menschen ist, nämlich Friede. Dieselbe Überzeugung des Psalms haben auch die Engel an Weihnachten verkündet: „Verherrlicht ist Gott in der Höhe und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade“ (Lk 2, 14). Dies ist der „Doppelbeschluss“ Gottes an Weihnachten, bei dem es wiederum die Reihenfolge zu beachten gilt: Der Friede unter den Menschen auf Erden hängt ab von der Herrlichkeit Gottes in der Höhe.

Wer Frieden in Gott findet, begegnet dabei einem Gott, der in die Gerechtigkeit für alle Menschen verliebt ist. Die Bestimmung der Menschen zur Gemeinschaft mit Gott kann deshalb nie wirklich werden ohne die durch Gerechtigkeit geordnete Gemeinschaft der Menschen untereinander. Und deshalb kann man mit dem biblischen Gott keine Gemeinschaft haben, ohne auch zur Rechtsgemeinschaft mit allen Menschen verpflichtet zu sein. Bereits im Alten Testament gibt es keinen Begriff von derart zentraler Bedeutung für alle Lebensbeziehungen der Menschen wie den der zedaka, der Gerechtigkeit. Sie ist nicht nur der Masstab für das Verhältnis von uns Menschen zu Gott, sondern von daher auch für das Verhältnis der Menschen untereinander und zu allen Mitgeschöpfen.

Dies ist die zweite Bedingung für den Frieden. Unser Psalm bringt sie mit dem schönen Wort des Kusses zum Ausdruck: „Es begegnen einander Huld und Treue, Gerechtigkeit und Friede küssen sich“ (V 11). Wenn wir diesen biblischen Friedenskuss mit der Gerechtigkeit ernst nehmen, dann kann es dort keinen Frieden geben, wo nicht der Gerechtigkeit gedient wird. Denn in der Gerechtigkeit steckt die Wurzel des Friedens. Im biblischen Verständnis heisst die Zwillingsschwester des Friedens nie nur Sicherheit oder Freiheit, sondern immer Gerechtigkeit: „Opus iustitiae pax.“ Nur durch seine Gerechtigkeit schafft Gott Frieden, und zwar einen solchen Frieden, der wirklich Bestand hat. Darin besteht Gottes Heil, wie dies der letzte Vers unseres Psalms verheisst: „Gerechtigkeit geht vor ihm her, und Heil folgt der Spur seiner Schritte“ (V 14).

Bitten wir den lebendigen Gott, dass er seinen Frieden in die Tiefe unseres Herzens lege, damit wir selbst Frieden finden und als Friedensstifter dem Kuss des Friedens Gottes mit der Gerechtigkeit für alle Menschen und die ganze Schöpfungsgemeinschaft dienen: „Es begegnen einander Huld und Treue, Gerechtigkeit und Friede küssen sich.“

 

Lesung. Psalm 85.

 

 

 

[1]  Ansprache im Abendgebet bei der Gemeinschaft Sant´Egidio in  der Kirche Santa Maria in Trastevere am 18. März 2019.