Homilie im Pontifikalamt anlässlich des Internationalen Symposiums der Europäischen Melanchthon-Akademie Bretten „Die Confessio Augustana im ökumenischen Gespräch“ in der Kirche St. Stephan in Karlsruhe am 13. Oktober 2019

 

Dank− Glaube − Mission.
Herausforderungen an den Glauben in ökumenischer Gemeinschaft

 

Kurt Cardinal Koch

 

 

Dank für Gottes Gnade

In seinem Tagebuch notiert der verstorbene Schweizer Schriftsteller Max Frisch einmal einen originellen Einfall. Er meint, es gebe leider keine Behörde und keine Instanz, die – wie etwa die Steuerbehörde – jährlich oder zweijährlich von uns eine Liste der Dankbarkeiten verlangt. Max Frisch spielt aber in seiner Tagebuchnotiz mit diesem Gedanken, und er stellt für sich und sein persönliches Leben eine lange Liste zusammen, auf der er vermerkt, wofür er danken würde, würde von ihm binnen einer Woche eine solche Liste der Dankbarkeiten verlangt. Er würde danken für seine Mutter, für die Begegnungen mit anderen Menschen, für seine Kinder, für seine Freude an guten Speisen und für viele andere Momente in seinem Leben. Die Liste der persönlichen Dankbarkeiten von Max Frisch braucht uns gewiss nicht weiter zu interessieren. Was uns jedoch beeindrucken sollte, ist sein origineller Einfall. Denn es wäre gut, wenn wir uns vom Schriftsteller dazu anregen liessen, in einer stillen Stunde für uns und unser Leben eine solche Liste der persönlichen Dankbarkeiten zusammenzustellen.

Diese Idee dürfte vielleicht ein recht ungewohnter Gedanke für viele Menschen und selbst Christen sein, und zwar nicht erst heute, wie das Evangelium zeigt, in dem Jesus zehn Menschen von der furchtbaren Krankheit des Aussatzes heilt, von denen aber nur einer, und zwar ein Samariter und damit ein Fremder, umkehrt, um für seine Heilung Jesus zu danken. Die anderen neun Geheilten belegen, dass es Menschen manchmal schwer fällt zu danken, und zwar nicht nur für dieses oder jenes zu danken, sondern grundsätzlich dankbar für das Leben zu sein.

Der Wurzelgrund für diese Unfähigkeit dürfte in unserer modernen Lebenseinstellung liegen. Gerade heute stehen wir immer wieder in der Versuchung, alles Gute, das einem entgegengebracht wird, für selbstverständlich zu nehmen. Die Liebe der Eltern zu ihren Kindern und die Zuneigung der Kinder zu ihren Eltern gilt oft als selbstverständlich genauso wie das gemeinsam geteilte Leben in einer Ehe. Dort aber, wo man im Leben alles für selbstverständlich nimmt und hält, betrachtet man es schnell für einen Skandal, wenn an der absoluten Vollkommenheit hier und da noch etwas fehlt. Damit allerdings überfordern wir nicht nur unsere Umwelt, sondern auch uns selbst. Was dabei fehlt, ist schlicht die Dankbarkeit. Denn wo es an Dankbarkeit mangelt, machen sich Missmut und Verdrossenheit breit.

Die Dankbarkeit erweist sich demgegenüber als die andere Seite der Tatsache, dass in unserem Leben eigentlich nichts selbstverständlich ist. Wenn wir uns dessen inne werden, werden wir von selbst zur Dankbarkeit bewegt. Dies lebt uns der zehnte Aussätzige im heutigen Evangelium vor. Er betrachtet seine Heilung nicht so, als hätte er einen Anspruch darauf, sondern als ein Geschenk, das er vom Sohn Gottes erhalten hat. Er erkennt, dass seine Heilung Gnade ist. Denn Gnade ist jene Erfahrung, die zur Dankbarkeit führt.

 

Heilung im Glauben

Wenn wir weiter bedenken, dass die vollständige und radikale Heilung des menschlichen Lebens im Heil besteht, das Gott uns schenkt, dann öffnet das heutige Evangelium uns den Blick für jenes grossartige Geschenk, das uns im ökumenischen Gespräch zwischen der Katholischen Kirche und den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen zuteil geworden ist. Genau vor zwanzig Jahren, am 31. Oktober 1999, haben der Lutherische Weltbund und der Päpstliche Rat zur Förderung der Einheit der Christen in Augsburg die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre unterzeichnet. Dass es möglich geworden ist, bei der wohl zentralsten Frage, die im 16. Jahrhundert zur Reformation und anschliessend zur Kirchenspaltung geführt hat, einen weitgehenden Konsens zu erzielen, darf man als ökumenischen Meilenstein würdigen. Anlässlich des zwanzigsten Jahrestags dieser gemeinsamen Erklärung haben wir allen Grund, wie der Samariter im heutigen Evangelium nochmals umzukehren, um Christus für dieses grossartige Geschenk zu danken.

Mit dieser Erklärung haben Lutheraner und Katholiken gemeinsam bekannt, dass wir Christen gerechtfertigt, erlöst und geheilt sind nicht aufgrund unserer Werke, wie gut und notwendig sie auch sind, sondern allein aufgrund der Gnade Gottes im Glauben. Zu diesem elementaren Stichwort leitet unsere Besinnung auf die Dankbarkeit von selbst hin. Denn in der Dankbarkeit kommt der Glaube zum Ausdruck. Hier scheint der eigentliche Grund auf, dass Jesus zum Samariter, der zurückgekehrt ist, um ihm zu danken, das schöne und tiefe Wort zuspricht: „Steh auf und geh! Dein Glaube hat dir geholfen.“ Mit diesem Wort, das Jesus in ähnlichen Situationen immer wieder spricht, weist Jesus die Heilung vom Aussatz dem Glauben des Samariters zu. Denn es ist der Glaube, der den Menschen heilt und rettet, indem er ihn in seiner ursprünglichen und tiefsten Beziehung zu Gott und von daher zu den anderen Menschen wiederherstellt.

Damit zeigt sich, dass der innerste Kern des christlichen Glaubens das Vertrauen und das Sich-Verlassen auf den lebendigen Gott ist. Denn sich selbst aus der eigenen Hand zu geben und sich restlos in die Hand eines Anderen fallen zu lassen, ist nur Gott gegenüber möglich, über den wir in der heutigen Lesung die schöne Verheissung vernommen haben: „Wenn wir untreu sind, bleibt er doch treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen.“ Nur Gott vermag der chronischen Angewiesenheit von uns Menschen auf eine absolute Vertrauenswürdigkeit zu entsprechen. Glauben im christlichen Sinne ist das Sich-Verlassen und Vertrauen auf Gott und das Sich-Einhalten bei Gott, durch das wir einen festen Halt gewinnen, nicht nur in unserem persönlichen Leben, sondern auch in unseren ökumenischen Beziehungen. Denn die Einheit unter den Christen, die wir suchen, kann nur Einheit im Glauben sein. Je tiefer wir uns im gemeinsamen Glauben beheimaten, umso näher werden wir uns auch im Leben kommen.

 

Mission aus Liebe

Im alltäglichen Leben sind wir berufen, Zeugnis zu geben von unserem Glauben; und dies können wir nur in ökumenischer Gemeinschaft. Denn die Ökumenische Bewegung ist seit ihren Anfängen eine Missionsbewegung gewesen. Diese Stossrichtung hat einen besonderen Ausdruck gefunden bereits an der Ersten Weltmissionskonferenz, die im Jahre 1910 im schottischen Edinburgh stattgefunden hat. Den an dieser Konferenz Teilnehmenden hat das Ärgernis vor Augen gestanden, dass sich die verschiedenen christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in der Missionsarbeit konkurrenziert und damit der glaubwürdigen Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi vor allem in fernen Kulturen geschadet haben, weil sie zusammen mit dem Evangelium auch die europäischen Kirchenspaltungen in andere Kulturen hinein getragen haben. Die Konferenzteilnehmenden sind sich deshalb der Tatsache bewusst geworden, dass die fehlende Einheit unter den Christen das grösste Hindernis für die Weltmission darstellt. Denn ein glaubwürdiges Zeugnis der Christen in der Welt ist nur möglich, wenn die Kirchen ihre Trennungen im Glauben und im Leben überwinden. Wenn die Zerstrittenheit der Christen das Gegen-Zeugnis für die Verkündigung des Evangeliums ist, dann ist umgekehrt die ökumenische Versöhnung die Grundvoraussetzung für eine glaubwürdige Mission der Kirche. Mission und Ökumene fordern und fördern sich wechselseitig: Eine missionarische Kirche ist von selbst eine ökumenische Kirche, und eine ökumenisch engagierte Kirche bildet die Grundbedingung für eine missionarische Kirche.

Darin bestand bereits die grundlegende Erkenntnis des Zweiten Vatikanischen Konzils, das in seinem Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche „Ad gentes“ den Grundauftrag der Kirche in dem programmatischen Satz verdichtet: „Zur Völkerwelt von Gott gesandt, soll die Kirche das allumfassende Sakrament des Heils sein. So bemüht sie sich gemäss dem innersten Anspruch ihrer eigenen Katholizität und im Gehorsam gegen den Auftrag ihres Stifters, das Evangelium allen Menschen zu verkünden.“[1] Das Konzil hat deshalb alle Getauften zu einer tief greifenden und inneren Erneuerung aufgerufen, „damit sie im lebendigen Bewusstsein der eigenen Verantwortung bei der Ausbreitung des Evangeliums ihren Anteil am Missionswerk bei den Völkern übernehmen.“[2] Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben sich alle Päpste, die sich für das Anliegen der Suche nach der Einheit der Christen eingesetzt haben, auch den Missionsauftrag in die Mitte des kirchlichen Lebens gestellt. Papst Franziskus hat diesen Oktober als ausserordentlichen Monat der Mission ausgerufen, „um das Bewusstsein der missio ad gentes wieder stärker wachzurufen und mit neuem Schwung die missionarische Umgestaltung des Lebens und der Seelsorge wiederaufzunehmen“[3].

Mission ist freilich nur dann glaubwürdig, wenn sie Zeugnis für das Gute ist, das von Gott kommt und sich mitteilen will und wenn Freude des Evangeliums lebt. Christliche Mission ist nicht ein menschliches und allzu menschliches Expansionsvorhaben, sondern entsteht aus dem Wunsch, das kostbare Geschenk der Liebe Gottes, das er uns in Jesus Christus gemacht hat, an andere Menschen weiterzugeben. Christliche Mission ist in erster Linie Zeugnis für die Liebe Gottes, die in Christus erschienen ist, und kann deshalb nur in Liebe geschehen.

Zeugnis zu geben von der Liebe Gottes und von der Schönheit des Glaubens macht die Sendung von uns Christen auch heute aus. Das Geheimnis dieser Sendung liegt in einem überzeugten und überzeugenden christlichen Leben. Die Mission der Kirche geschieht heute in erster Linie nicht durch konsumfreundliche Werbung oder durch die Verbreitung von viel Papier und auch nicht in den Medien. Das entscheidende Medium der Ausstrahlung Gottes sind vielmehr wir selbst: Christen und Christinnen, die ihren Glauben glaubwürdig leben und so dem Evangelium ein persönliches Gesicht geben. Wenn uns Jesus Christus wirklich als Licht der Welt einleuchtet, werden wir von selbst ausstrahlen, Christen und Christinnen mit Ausstrahlung sein, die gleichsam wie finnische Kerzen leben, die bekanntlich von innen nach aussen brennen und so Licht geben.

 

Heilung vom Aussatz der Sünde

Mission ist Ausdruck und Ausfluss eines überzeugten Glaubens, und der Glaube kommt zum Ausdruck in der Dankbarkeit: Dank, Glaube und Mission sind die drei Stichwörter, die uns die Verkündigungstexte des heutigen Sonntags nahe legen und die uns zeigen wollen, was christliches Leben bedeutet. Sie sind auch die drei Grundworte des ökumenischen Engagements für die Einheit der Christen: Wir haben allen Grund zu danken, dass wir in Christus bereits die Einheit gefunden haben, die es nun sichtbar darzustellen und zu leben gilt; wir werden noch mehr zueinander finden, je mehr wir uns in unserem gemeinsamen Glauben vertiefen; und wir können glaubwürdig den Glauben nur weitergeben, wenn wir ihn in versöhnter Gemeinschaft bezeugen.

Wenn wir dies bedenken, werden wir eine nochmals tiefere Bedeutung des heutigen Evangeliums erkennen: Der Aussatz, der uns Menschen wirklich entstellt und der Reinigung bedarf, ist die Sünde. Diesen inneren Aussatz, der uns von Gott und von den Menschen trennen will, kann nur Gott heilen, der die Liebe ist. So haben wir allen Grund, wie der Samariter umzukehren zu Jesus Christus und ihm zu danken für seine Heilung. Diesen persönlichen Dank wollen wir nun einbringen in die Feier der Eucharistie, des grossen Dankgebetes der Kirche für die grenzenlose Liebe, die Christus uns schenkt.

 

Erste Lesung:    2 Kön 5, 14-17
Zweite Lesung: 2 Tim 2, 8-11
Evangelium:      Lk 17, 11-19

 

 

[1]  Ad gentes, Nr. 1.

[2]  Ad gentes, Nr. 35.

[3]  Franziskus, Botschaft zum 100. Jahrestag des Apostolischen Schreibens von Papst Benedikt XV. „Maximum illud“ über das Werk der Missionare in aller Welt.